Florian Gerlach

Seminare zum „Recht der Sozialen Arbeit“

Evangelische Hochschule Bochum

Kopie von Aufgaben des Verfahrenlotsen

Einführung

Am 09.06.2021 ist das neue Kinder- und Jugendschutzgesetz (KJSG) verkündet worden. Neben einer Vielzahl weiterer Regelungen bereitet das Gesetz die Zusammenführung von Leistungen für junge Menschen mit und ohne Behinderungen umfassend vor. Für den Umsetzungsprozess ist ein Stufenmodell und ein Umsetzungszeitraum von sieben Jahren vorgesehen. Die zweite Stufe sieht ab dem 1. Januar 2024 die Einführung der Funktion eines sogenannten „Verfahrenslotsen“ vor. Die Implementierung des Verfahrenslotsen dient – neben anderen Instrumenten – dem Ziel, Hilfen für Kinder mit und ohne Behinderungen aus einer Hand zu gewähren. Der Verfahrenslotse ist somit Teil der gesetzlichen Neuregelungen zur Umsetzung der sogenannten inklusiven Lösung.

Der Verfahrenslotse hat eine Doppelrolle, nämlich einerseits eine Unterstützungsfunktion zugunsten der Leistungsberechtigten (§ 10b Abs. 1 SGB VIII 1) und andererseits eine Unterstützungsfunktion zugunsten der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (§ 10b Abs. 2 SGB VIII). In der folgenden Expertise soll vorrangig die Unterstützungsfunktion zugunsten der Leistungsberechtigten sowie ihrer Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten in den Blick genommen werden.

Gesetzliche Grundlage

Anspruch auf Unterstützung und Begleitung

Nach § 10b Abs. 1 S. 1SGB VIII haben junge Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer Behinderung oder wegen einer drohenden Behinderung geltend machen, oder bei denen solche Leistungsansprüche in Betracht kommen, sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigte bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung dieser Leistungen, Anspruch auf Unterstützung und Begleitung durch einen Verfahrenslotsen.

Voraussetzungen

Der Anspruch besteht unter den folgenden Voraussetzungen:

Anspruchsberechtigter Personenkreis

Kinder, Jugendliche und junge Volljährige

Zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehören nach § 10b Abs. 1 S. 1 SGB VIII zunächst „junge Menschen“. Junger Mensch ist nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII eine Person, die noch nicht 27 Jahre alt ist. Das Beratungsgebot richtet sich daher nicht allein an Kinder und Jugendliche, also Minderjährige, sondern explizit an die Gruppe der „jungen Volljährigen“ (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII).

Gesetzliche Vertreter

Da die Personengruppe der „jungen Menschen“ die Altersgruppe von 0 bis einschließlich 26 Jahre umfasst, stellt sich die Frage, ob der Unterstützungs- und Begleitungsanspruch von den jeweils betroffenen jungen Menschen eigenständig oder nur durch einen etwa vorhandenen gesetzlichen Vertreter geltend gemacht werden kann.

Betreuer

Der Anspruch kann von allen jungen Menschen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, unmittelbar selbst geltend gemacht werden. Dies gilt grundsätzlich auch für solche junge Menschen, die unter gesetzlicher Betreuung stehen. Denn die zentrale Vorschrift des Betreuungsrechts, § 1902 BGB, erlaubt die Vertretung des Betreuten nur in den Bereichen, in denen eine Stellvertretung zulässig ist. Insofern der Anspruch nach § 10b SGB VIII jedoch nicht auf den Abschluss von Willenserklärungen, sondern auf Beratung und Unterstützung gerichtet ist, steht der Anspruch auch solchen jungen volljährigen Leistungsberechtigten zu, die unter gesetzlicher Betreuung stehen. Erst wenn es im Anschluss an die Beratung und Unterstützung um die Geltendmachung der Leistung durch Anträge oder Rechtsbehelfe geht, bedarf es im Falle eines entsprechenden Einwilligungsvorbehaltes deren Stellung oder Einlegung durch die Betreuerin oder den Betreuer.

Sozialrechtsmündigkeit bei Jugendlichen

Bei Kindern und Jugendlichen, also bei jungen Menschen, die noch nicht volljährig sind, stellt sich die Frage, ob der Unterstützungs- und Begleitungsanspruch grundsätzlich nur vermittels des gesetzlichen Vertreters geltend gemacht werden kann. Soweit Jugendliche das 15. Lebensjahr vollendet haben, stützt § 36 Abs. SGB I einen eigenständigen Beratungsanspruch, denn die Inanspruchnahme von Unterstützung und Begleitung im Rahmen des § 10b SGB VIII ist Teil der in § 36 SGB I geregelten „Verfolgung“ von Sozialleistungen. Dies gilt jedenfalls so lange, bis der gesetzliche Vertreter nicht nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB I widerspricht.

Eltern und andere gesetzliche Vertreter

Umgekehrt spricht die Regelung des § 36 SGB I dafür, dass es bei unter 15-Jährigen grundsätzlich beim Entscheidungsprimat der Eltern bzw. sonstiger gesetzlicher Vertreter verbleiben soll, mit der Folge, dass diese den Beratungsanspruch nur vermittels ihrer gesetzlichen Vertreter geltend machen können. Der allgemeine Beratungsanspruch von Kindern und Jugendlichen nach § 8 Abs. 3 SGB VIII bleibt hiervon unberührt. Praktisch relevant dürften die vorgenannten Fälle nur in denjenigen Fällen sein, in denen gesetzliche Vertreter ihrer Fürsorgeverantwortung aus eigenem Antrieb nicht adäquat nachkommen.

Mütter und Väter

Mütter und Väter der vorgenannten jungen Menschen steht ein eigener Anspruch zu. Mutterschaft und Vaterschaft (Elternschaft) sind Rechtskategorien des Abstammungsrechts und vermitteln als solche Rechte und Pflichten unabhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Sorgerechts. Mutterschaft und Vaterschaft können, müssen aber nicht mit dem Sorgerecht zusammenfallen: Mutter eines Kindes ist nach § 1591 BGB die Frau, die das Kind geboren hat. Vater eines Kindes ist der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet war, der die Vaterschaft anerkannt hat oder der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt worden ist. Beiden Personengruppen (Müttern und Vätern) wird neben den jungen Menschen selbst und vor allem auch neben den Personensorgeberechtigten und den Erziehungsberechtigten ein eigener Anspruch eingeräumt. Mütter und Väter können damit den Unterstützungs- und Begleitungsanspruch auch denn gelten machen, wenn sie selbst nicht sorgeberechtigt sind. Relevant könnte dies wegen der Grundentscheidungen des § 1626a BGB vor allem im Hinblick auf nicht sorgeberechtigte Väter werden, denn diese haben nur dann ein Sorgerecht, wenn entweder die Mutter zugestimmt hat oder das Familiengericht die (gemeinsame) Sorge übertragen hat.

Personensorgeberechtigte

Personensorgeberechtigt ist nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII, wer nach den Vorschriften des BGB entweder allein oder gemeinsam mit einer anderen Person sorgeberechtigt ist. Die Mutter hat das Sorgerecht nach den Vorschriften des BGB regelhaft inne – entweder als gemeinsames Sorgerecht nach § 1626 BGB (verheirate Eltern) bzw. § 1626a Abs. 1 BGB (unverheiratete Eltern) oder als alleiniges Sorgerecht nach § 1626a Abs. 2 BGB. Der Vater hat das Sorgerecht regelhaft (gemeinsam mit der Mutter) inne, wenn er mit dieser verheiratet ist (§ 1626 bzw. § 1626a Abs. 1 Nr. 2 BGB), wenn beide Eltern eine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben haben (§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder wenn das Familiengericht ihm die gemeinsame Sorge übertragen hat (§ 1626a Abs. 1 Nr. 3 BGB).

Erziehungsberechtigte

Erziehungsberechtigt ist neben dem oder den Erziehungsberechtigten jede Person über 18 Jahre, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 BGB). Diese Voraussetzungen treffen insbesondere auf Personen zu, die im Rahmen der Hilfen nach §§ 34, 35, und 35a SGB VIII die Erziehung eines Kindes übernom-men haben (vgl. § 1688 Abs. 1 und Abs. 2 BGB). . Erziehungsberechtigt können im Einzelfall auch andere Personen, wie z.B. Verwandte sein.

Geltendmachung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer bestehenden oder drohenden Behinderung

Der Unterstützungs- und Begleitungsanspruch setzt voraus, dass Ansprüche wegen einer bestehenden oder drohenden Behinderung geltend gemacht werden. Eine Definition des Behinderungsbegriffs findet sich zunächst in § 2 Abs. 1 SGB IX: Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist. Soweit Leistungsansprüche nach dem SGB VIII geltend gemacht und dort der Behinderungsbegriff Tatbestandsvoraussetzung für die Leistungsgewährung ist wegen § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IX auf die speziellere Regelung des § 7 Abs. 2 SGB VIII abzustellen.
Hervorzuheben ist, dass der Unterstützungs- und Begleitungsanspruch gerade nicht voraussetzt, dass eine bestehende oder drohende Behinderung bereits festgestellt wurde. Es reicht vielmehr aus, dass die leistungsberechtigte Person Ansprüche wegen einer Behinderung geltend machen will. Die Prüfung der Behinderteneigenschaft gehört zur Prüfung der Leistungsvoraussetzungen für die Leistungen, auf deren Inanspruchnahme der Verfahrenslotse hinwirken soll. Anders gesprochen: Die Unterstützungs- und Begleitungspflicht durch den Verfahrenslotsen setzt ein, sobald die Leistungsberechtigte Person Ansprüche auf Eingliederungshilfeleistungen, gleich welcher Art geltend machen will.

Rechtsfolge

Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung von Eingliederungshilfeleistungen

Der Anspruch ist gerichtet auf „Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung von Eingliederungshilfeleistungen“.

Eingliederungshilfeleistungen

Eingliederungshilfeleistungen sind nach § 102 SGB IX die Leistungen

  • zur medizinischen Rehabilitation,
  • zur Teilhabe am Arbeitsleben,
  • zur Teilhabe an Bildung und
  • zur Sozialen Teilhabe.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind, wie schon unter Geltung des § 54 SGB XII – nicht auf den Katalog des § 102 SGB IX beschränkt. Es kommen auch andere, nicht ausdrücklich genannte Leistungen in Betracht, wenn diese im Einzelfall zur Erfüllung des Zwecks der Eingliederungshilfe erforderlich sind. Auch auf solche Leistungen erstreckt sich der Unterstützungs- und Begleitungsanspruch. Junge Menschen mit Behinderungen sowie ihre Familien haben typischerweise einen Unterstützungs- und Begleitungsbedarf gerade auch bezogen auch solche Leistungen, die keine Eingliederungshilfeleistungen im engeren Sinne sind. So insbesondere bezogen auf unterhaltssichernde oder ergänzende Leistungen, Leistungen der Pflegeversicherung und Leistungen der Rentenversicherung. Gerade im Kontext der Leistungserbringung in stationären Wohnformen ist eine Beratungs- und Unterstützungstätigkeit kaum sachgerecht vorstellbar, wenn sich diese allein auf die Frage der reinen Eingliederungshilfeleistungen erstreckt. Entgegen dem Wortlaut sollte sich die Unterstützung und Begleitung grundsätzlich auf alle Rechtsansprüche zu Gunsten junger Menschen mit Behinderungen beziehen. Andernfalls sähen sich die Leistungsberechtigten mit einem Berater- und Unterstützerpool aus den unterschiedlichen Sozialleistungsbereichen konfrontiert. Allein diese aufzufinden erschwert den Zugang zu bedarfsgerechten Hilfen und wäre einer Anspruchsverwirklichung abträglich. Unterstützung und Begleitungen sollte damit aus einer Hand durch die Verfahrenslotsen erfolgen.

Unterstützung und Begleitung

„Unterstützung und Begleitung“ ist mehr als Beratung oder der bloße Verweis auf Anspruchsgrundlagen.
Junge Menschen mit (drohenden) Behinderungen und ihre Eltern und/oder Personensorge- und Erziehungsberechtigten stehen einem Sozialleistungssystem gegenüber, das durch eine Vielzahl von Leistungstatbeständen in unterschiedlichen Sozialgesetzen geprägt ist. Bedarfe von jungen Menschen mit Behinderungen lassen sich häufig nicht eindeutig einer bestimmten Behinderung zuordnen und lassen sich oft nur durch das Zusammenwirken mehrerer Eingliederungshilfeträger verwirklichen. Auch treffen Eingliederungshilfebedarfe nicht selten mit erzieherischen Bedarfen zusammen. Diese Rahmenbedingungen resultieren in ungeklärten Zuständigkeitsfragen und komplexen Antragsverfahren und Verwaltungsverfahren, deren Bewältigung durch Leistungsberechtigte wesentlich erschwert ist. Insbesondere die Orientierung und praktische Unterstützung bei der Zuständigkeitsklärung sowie die weitere Unterstützung in dem oder den Verwaltungsverfahren sind vom Unterstützungsauftrag erfasst. Hierfür spricht insbesondere der Begriff „Begleitung“, der eben eine fortdauernde, über den Zeitpunkt der Antragstellung hinausgehende Unterstützung impliziert. Die Begleitung und Unterstützung ist damit umfassend ausgerichtet und auf verwaltungspraktische, materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Fragen gerichtet. Die Frage, auf welche materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Fragen des Eingliederungshilferechts im Einzelnen sich der Unterstützungs- und Begleitungsanspruch richtet, wird unten bei den Qualifikationsanforderungen für den Verfahrenslotsen dargestellt. „Unterstützung und Begleitung“ findet seine Grenze in der durch das Sorgerecht oder – bei volljährigen jungen Menschen – durch die Eigenverantwortung gesetzten Pflicht zur selbständigen Wahrnehmung von Rechten. Insbesondere haben Verfahrenslotsen keine Pflichten oder Befugnisse für die oder gar im Namen der Leistungsberechtigten Anträge zu stellen oder andere Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Dazu hätte es einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung und Ermächtigung bedurft, wie sie etwa im Kontext der Beistandschaft in § 1716 BGB zu finden ist.

Hinwirkung auf die Inanspruchnahme von Rechten

§ 10b Abs. 1 S. 2 SGB VIII wiederholt zunächst das bereits in § 10b Abs. 1 S. 1 SGB VIII enthaltene Gebot, die Leistungsberechtigten zu „unterstützen“. Im Unterschied zu § 10b Abs. 1 S. 1 SGB VIII ist das Gebot auf die „Verwirklichung“ des Rechtsanspruches gerichtet. Ob damit mehr gemeint ist, als die in S. 1 enthaltene Formulierung, wonach der Verfahrenslotse „bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung“ der Leistung zu unterstützen hat, ist offen. Jedenfalls muss der Verfahrenslotse im Rahmen der „Unterstützung“ dafür sorgen, dass sich der abstrakte Rechtsanspruch zur konkreten Leistung verdichtet. Die Unterstützungspflicht endet, wenn die Leistung in der Sphäre des Hilfesuchenden angekommen ist, sie also sprichwörtlich „auf seinem Teller“ liegt. Oder um eine sozialrechtliche Terminologie zu nutzen: Das Gebot, bei der „Verwirklichung von Ansprüchen“ zu unterstützen endet erst, wenn die dem jeweiligen Leistungsberechtigten zustehenden Leistungen als „bereite Mittel“ auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Zu den im Rahmen des § 10b Abs. 1 S. 1 1. Hs. SGB VIII gewährten Unterstützungsleistungen dürfte insbesondere auch die Vermittlung und der Hinweis auf weitere spezialisierte Beratungsangebote öffentlicher und privater Institutionen und Personen gehören. Auch die Bewältigung von Akzeptanz- und Vertrauensproblemen sowie die Überwindung von Schwellenängsten ist ein notwendiger Beitrag zum Empowerment der Leistungsberechtigten. Der Auftrag des Verfahrenslotsen ist deshalb im Kern nicht nur auf die Bewältigung rechtlicher und administrativer Fragen, sondern auch auf ein wirksames Empowerment der Betroffenen gerichtet.

Unabhängigkeit

Weiter verweist § 10b Abs. 1 S. 2 1. Hs. SGB VIII auf die Unabhängigkeit des Verfahrenslotsen. Die Leistung des Verfahrenslotsen ist nach § 10b Abs. 1 S. 3 SGB VIII eine Leistung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Dienst- bzw. arbeitsrechtlich ist der Verfahrenslotse damit grundsätzlich den Weisungen seines Dienstherrn bzw. Arbeitgebers unterworfen. Die Unterstützung und Begleitung der Leistungsberechtigten bei der Antragstellung sowie Verfolgung und Wahrnehmung von Rechten kann zu den Interessen des Dienstherrn bzw. Arbeitgebers in Interessenwiderstreit treten, weil diese in Teilbereichen Adressaten der jeweiligen Rechtsansprüche sein können. § 10b Abs. 1 S. 2 1. Hs. SGB VIII stellt deshalb klar, dass die Tätigkeit des Verfahrenslotsen im Kern der Unterstützungs- und Begleitungstätigkeit weisungsfrei zu sein hat. Für die Ombudsstellen ist das Gebot der Weisungsfreiheit im Kontext des Gesetzgebungsverfahrens breit diskutiert und gefordert worden. Nichts anderes kann für die Arbeit des Verfahrenslotsen gelten. Vergleichbare Interessengegensätze gibt es auch in anderen Sphären des SGB VIII, etwa bei den Amtsvormündern und -vormundinnen. Auch dort gilt das Gebot der Weisungsfreiheit. Amtsvormünder und -vormundinnen haben allein dem Wohl ihrer Mündel zu dienen.

Zuständigkeit

Die Leistung des Verfahrenslotsen wird nach § 10b SGB VIII durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe erbracht. Deren Zuständigkeit ergibt sich im Übrigen aus § 85 Abs. 1 SGB VIII.

Inkrafttreten und Außerkrafttreten

Die Regelung tritt am 1. Januar 2024 in und am 1. Januar 2028 außer Kraft.

Begründungen im Gesetzentwurf

In der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung wird der Verfahrenslotse explizit als Baustein im Kontext des Stufenmodells zur Umsetzung der sog. „Inklusiven Lösung“ hervorgehoben.

Zentrale Begründungsansätze im Gesetzentwurf der Bundesregierung für die Einführung des Rechtsinstituts des Verfahrenslotsen sind:

  • Leistungsberechtigte haben Schwierigkeiten, sich im komplexen und zergliederten System des Eingliederungshilferecht zurechtzufinden.
  • Leistungsberechtigte haben Schwierigkeiten bei der Zuständigkeitsbestimmung und bei der Bewältigung verfahrensrechtlicher und administrativer Prozesse.
  • Familien, die ein Kind mit Behinderungen zu betreuen haben, stehen im Alltag vor großen Herausforderungen und bedürfen deshalb beim Zugang zu Sozialleistungen einer besonderen Unterstützung.
  • Bei den Leistungsberechtigten existieren z.T. Akzeptanz- und Vertrauensprobleme, die durch den Einsatz der Verfahrenslotsen überwunden werden können.

Der Regierungsentwurf nimmt auch Stellung zu weiteren Beratungsangeboten des SGB VIII und anderen Sozialleistungssystemen und betont die Ausrichtung der Arbeit des Verfahrenslotsen auf die Adressatengruppe „junge Menschen mit Behinderungen und ihre Familien“. Zudem umfasst der Auftrag des Verfahrenslotsen mehr als Beratung.

Rezeption

Rechtsprechung

Rechtsprechung zum Verfahrenslotsen liegt nicht vor, weil die Regelung noch nicht in Kraft ist.

Literatur

In der einschlägigen juristischen Fachliteratur finden sich – wenn überhaupt – allenfalls Hinweise auf die Existenz des Rechtsinstituts des Verfahrenslotsen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsinstitut erfolgt nicht.

Stellungnahmen

Eine breitere Rezeption findet die Einführung des Rechtsinstituts des Verfahrenslotsen in den Stellungnahmen im Kontext des Gesetzgebungsverfahrens.

Die Einführung des Rechtsinstituts eines unabhängigen Verfahrenslotsen wurde in einer Vielzahl von Stellungnahmen überwiegend begrüßt. Kritik, Bedenken und Anregungen richteten sich wesentlich auf folgende Aspekte:

  • Zeitpunkt der Einführung des Rechtsinstituts des Verfahrenslotsen (z.T. wurde eine frühere Einführung als 2024 gefordert).
  • Verstetigung des Rechtsinstituts des Verfahrenslotsen.
  • Unabhängigkeit des Verfahrenslotsen und institutionelle Ansiedlung im Jugendamt.
  • Unklarheiten im Hinblick auf die Beschreibung des genauen Aufgabenkreises des Verfahrenslotsen.
  • Unklarheiten im Hinblick auf die Abgrenzung zu weiteren Beratungs- und Unterstützungsangeboten innerhalb und außerhalb des SGB VIII.
  • Gefahr einer Überlastung des Jugendamtes.

Koalitionsvertrag 2021 – 2025

Der „Koalitionsvertrag 2021 – 2025“ zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP)“ strebt im Hinblick auf den Verfahrenslotsen folgende Änderungen an: „Wir werden dafür Modellprogramme auf den Weg bringen und die Verfahrenslotsen schneller und unbefristet einsetzen.“

Abgrenzung zu anderen Beratungs- und Unterstützungsangebon

Der Anspruch der Leistungsberechtigten auf Unterstützung und Begleitung tritt in Konkurrenz zu allgemeinen sowie bereichsspezifischen Beratungsansprüchen des Sozialgesetzbuches. Es ist deshalb klärungsbedürftig, ob und ggf. wie der Anspruch auf „Unterstützung und Begleitung“ durch den Verfahrenslotsen nach § 10b SGB VIII die etablierten Beratungsansprüche erweitert.

Beratung und Auskunft, §§ 14, 15 SGB I

Nach § 14 SGB I hat jede Person Anspruch auf Beratung über ihre Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch. Nach § 15 SGB I haben die nach Landesrecht zuständigen Stellen über alle sozialen Angelegenheiten nach dem Sozialgesetzbuch Auskünfte zu erteilen. Sowohl § 14 als auch § 15 SGB I beziehen sich auf alle Sozialleistungen des SGB, mithin auch auf alle Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Beratung muss Informationen über die für den Einzelnen konkret relevante Sach- und Rechtslage, Hinweise auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, auf die Rechtsprechung, auf beachtliche Gegenmeinungen und auf die Verwaltungspraxis enthalten. Beide Regelungen sollen zur Verwirklichung der sozialen Rechte beitragen und den Zugang des Einzelnen zum Sozialrecht und zu den Sozialleistungen erleichtern.
Beide Regelungen weisen daher eine große Nähe zum Anspruch auf „Unterstützung und Begleitung“ nach § 10b SGB VIII hin. Eine eigenständige Bedeutung und Rechtfertigung kann § 10b SGB VIII nur erlangen, wenn man die Regelung dahingehend interpretiert, dass sie zu mehr verpflichtet, als zu bloßer Beratung und Auskunft, nämlich zu einer umfassenden Begleitung und Unterstützung bei verwaltungspraktischen, materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Fragen über die gesamte Dauer des Verfahrens.

Beratung, § 10a SGB VIII

Nach § 10a SGB VIII sind junge Menschen, Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigte, die leistungsberechtigt sind oder Leistungen nach § 2 Absatz 2 SGB VIII erhalten sollen, zur Wahrnehmung ihrer Rechte nach dem SGB VIII in einer für sie verständlichen, nach-vollziehbaren und wahrnehmbaren Form, auf Wunsch auch im Beisein einer Person ihres Ver-trauens, zu beraten. Der Anspruch auf einen Verfahrenslotsen ergänzt und erweitert diese Beratungsansprüche. Er nimmt insbesondere die fachlichen und verfahrensrechtlichen Herausforderungen aus dem Bereich der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX und § 35a SGB VIII in den Blick.

Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, § 32 SGB IX

Zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohten Menschen wurden durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) die sog. Teilhabeberatungsstellen etabliert. Die Teilhabeberatung ergänzt den Beratungsanspruch gegenüber den Rehabilitationsträgern. Im Unterschied zur unabhängigen Teilhabeberatung, ist der durch den Verfahrenslotsen zu leistende Unterstützungs- und Begleitungsanspruch explizit auf die Perspektive der Bedarfslagen von Kindern und Jugendlichen und ihrer Familien spezialisiert. Er unterscheidet sich damit inhaltlich durch die spezifische Ausrichtung auf die Adressatengruppe junge Menschen mit Behinderungen und ihre Familien. Durch die Einbindung des Verfahrenslotsen in die Verwaltungsstrukturen der kommunalen Jugendämter können zudem kinder- und jugendhilfespezifische Belange sowie die Bedarfslagen von Eltern von Kindern mit Behinderungen besondere Berücksichtigung finden.

Kompetenzen der Verfahrenslotsen

Die Kompetenzen des Verfahrenslotsen sind aus seinem gesetzlichen Auftrag abzuleiten. Wie oben darlegt, erfüllt der Verfahrenslotse eine doppelte Funktion:

Unterstützung und Begleitung der Leistungsberechtigten; Empowerment

Er

  • unterstützt und
  • begleitet

die Leistungsberechtigten bei der

  • Antragstellung,
  • Verfolgung und
  • Verwirklichung

von Rechten auf Leistungen der Eingliederungshilfe und

  • wirkt hin

auf die Inanspruchnahme von Rechten

Unterstützung des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe

Er

  • unterstützt

den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen in dessen Zuständigkeit.

Hierzu

  • berichtet

er gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe halbjährlich insbesondere über Erfahrungen der strukturellen Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, insbesondere mit anderen Rehabilitationsträgern.

Berufliche Grundqualifikation und Kompetenzen

Als berufliche Grundqualifikationen erscheinen besonders geeignet:

  • Sozialarbeiterinnen / Sozialarbeiter
  • Juristen
  • Heilpädagogen
  • Mitarbeiterinnen / Mitarbeiter aus dem gehobenen oder höheren Verwaltungsdienst bzw. mit gleichwertiger Angestelltenqualifikation
  • Sozialwissenschaftler mit entsprechender Zusatzqualifikation Da die Tätigkeit der Verfahrenslotsen Kompetenzen sowohl im Bereich
  • Recht
  • Inklusion und Teilhabe
  • Soziale Arbeit / Sozialpädagogik
  • Verwaltung und Administration umfasst, wird keine der genannten Qualifikationen die geforderten Kompetenzen umfassend abdecken. Soweit nicht bereits durch Berufserfahrung erworben, bedarf es deshalb breiter Qualifikationsanstrengungen der Kommunen. Der Begleitungs- und Unterstützungsauftrag ist umfassend auf verwaltungspraktische, materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Fragen gerichtet. Um diesen Auftrag zu erfüllen, sollen Personen, die die Funktion des Verfahrenslotsen ausüben vorrangig Kompetenzen in folgenden Bereichen erwerben:
  • Leistungen zur Teilhabe
    • Soziale Teilhabe
    • Teilhabe an Bildung
    • Teilhabe am Arbeitsleben
    • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
    • unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen
  • Zuständigkeiten
  • Versorgungsstrukturen: ambulante und stationäre Wohnformen, Werkstatt für Menschen mit Behinderung
  • Träger- und Finanzierungsstrukturen im Bereich der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe
  • Behördenorganisation und Behördenstrukturen
  • Verfahrensrecht, insbesondere Teilhabeplan, Gesamtplan, Hilfeplan
  • Rechtsbehelfe Beratungsbedarfe junger Menschen und ihrer Familien sind nicht auf den engen Kreis des Eingliederungshilferechts beschränkt. Kenntnisse in folgenden weiteren Bereichen erscheinen deshalb sachgerecht:
  • Leistungen des Kinder- und Jugendhilferechts
  • Sozialhilferecht
  • Leistungen des Sozialversicherungsrechts (insbesondere Pflege)
  • Schwerbehindertenrecht
  • Kindergeldrecht
  • Sonstiges Leistungsrecht
  • Grundzüge des Familienrechts (Elternschaft, Sorgerecht, Vormundschaft, Betreuung) Beratung im Hinblick auf Leistungen der Eingliederungshilfe kann sachgerecht nur erfolgen, wenn die beratende Person einen Überblick über die jeweils besonderen Bedarfslagen der jungen Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien haben. Es bedarf daher auch einer
  • Qualifikation im Hinblick auf die konkreten Bedarfe einzelner Behinderungsarten Die Verfahrenslotsen sollen auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken, Leistungsberechtigte also in ihrer eigenverantwortlichen Wahrnehmung von Rechten stärken. Zu den Kernkompetenzen von Verfahrenslotsen gehören deshalb insbesondere auch sozialpädagogische Beratungsansätze und -methoden.

Ergebnis

Am 10.06.2021 ist das neue Kinder- und Jugendschutzgesetz (KJSG) in Kraft getreten. Mit dem Gesetz ist die Funktion eines „Verfahrenslotsen“ bzw. einer „Verfahrenslotsin“ geschaffen worden. Jedes Jugendamt etabliert spätestens ab dem 1. Januar 2024 einen Verfahrenslotsen. Die Verfahrenslotsen sollen junge Menschen mit einer bestehenden oder drohenden Behinderung und deren Familien dabei unterstützen, Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch zu nehmen. Dafür sollen sie bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen unterstützen und begleiten. Auch sollen sie bei den Anspruchsberechtigten darauf hinwirken, dass diese ihre Rechte in Anspruch nehmen.

Darüber hinaus sollen die Verfahrenslotsen die kommunalen Jugendämter bei der Umsetzung der sogenannten „Inklusiven Lösung“ unterstützen. Die Verfahrenslotsen haben somit eine Doppelrolle, nämlich einerseits eine Unterstützungsfunktion zugunsten der Leistungsberechtigten und andererseits eine Unterstützungsfunktion zugunsten der kommunalen Jugendämter. Die Unterstützungstätigkeit der Verfahrenslotsen ist ein Rechtsanspruch der leistungsberechtigten jungen Menschen bzw. ihrer Eltern, Erziehungsberechtigten oder sonstigen gesetzlichen Vertreter (z.B. Vormünder). Der Rechtsanspruch richtet sich auf Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung von Eingliederungshilfeleistungen. „Unterstützung und Begleitung“ ist mehr als Beratung. Die Verfahrenslotsen sind vielmehr Unterstützer für die „Verwirklichung“ des Anspruchs. Ihr Auftrag endet erst, wenn die dem jeweiligen Leistungsberechtigten zustehenden Leistungsansprüche, als „bereite Mittel“ auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Die Verfahrenslotsen sind zwar Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes, gleichwohl unterstützen sie die Leistungsberechtigten unabhängig. Ihre Tätigkeit als Verfahrenslotsen muss daher im Bereich des Kerns der Unterstützungs- und Begleitungstätigkeit grundsätzlich frei von Weisungen sein.

Die Tätigkeit der Verfahrenslotsen weist Schnittmengen zur Tätigkeit anderer Beratungsangebote auf, insbesondere zum Recht auf Beratung und Auskunft nach §§ 14, 15 SGB I, zum Recht auf Beratung nach § 10 a SGB VIII, zur ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung nach § 32 SGB IX und zu den weiteren bereichsspezifischen Beratungsangeboten der jeweiligen Sozialleistungsträger. Der Auftrag der Verfahrenslotsen unterscheidet sich von den genannten Beratungsangeboten wesentlich durch den Fokus auf die spezifischen Bedarfslagen von jungen Menschen mit Behinderungen und deren Familien.
Der Auftrag zur Unterstützung und Begleitung der jungen Menschen mit Behinderung und ihrer Familien stellt Anforderungen an die Qualifikationen und Kompetenzen der Verfahrenslotsen. Qualifikations- und Kompetenzanforderungen sind aus dem Aufgabenprofil und der Doppelrolle als Unterstützer und Begleiter der Leistungsberechtigten einerseits sowie als Unterstützer der kommunalen Jugendämter andererseits abzuleiten.
Berufliche Grundqualifikationen als Sozialarbeiterin / -arbeiter, Mitarbeiterin / Mitarbeiter im gehobenen oder höheren Verwaltungsdienst, Juristin / Jurist, Heilpädagogin / -pädagoge, Rehabilitationswissenschaftlerin / -wissenschaftler erscheinen dabei sachgerecht. Der Begleitungs- und Unterstützungsauftrag der Verfahrenslotsen ist umfassend und insbesondere auf verwaltungspraktische, materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Fragen gerichtet. Die Verfahrenslotsen sollten deshalb vor allem über profunde Kenntnisse im Bereich des Rechts der Leistungen zur Teilhabe und des Verfahrensrechts verfügen. Sie sollten Kenntnis von Zuständigkeitsfragen, Versorgungsstrukturen sowie Behördenstrukturen und -organisation haben. Wesentlich ist auch eine Kenntnis der besonderen verfahrensrechtlichen Regelungen des Eingliederungshilferechts und des Jugendhilferechts.