Bei jeder juristischen Falllösung geht es zunächst darum, die Interessen der jeweilgen Parteien zu bestimmen. Die Frage, wer in einem Rechtsstreit welche Interessen hat, kann auf der Hand liegen. Sie kann aber bei komplexeren Fällen mit mehreren Beteiligten und vielschichtigen Interessen einigen Aufwand machen. Im normalen Alltag würde nach Äußerung eines Interesses vernünftigerweise die Frage nach dem „Warum“ anschließen. Es würde also geklärt oder diskutiert, warum jemand welche Interessen hat und ob diese vernünftig oder unvernünftig, schädlich oder nützlich sind.
Juristen denken an dieser Stelle anders. Statt der Frage nach dem „Warum“, stellen Sie die Frage nach dem „Woraus“.
Gemeint ist: Aus welchem Gesetz? Es geht darum, festzustellen, wer genau was von wem verlangen darf. Um diese Frage zu beantworten, müssen Juristen alle Gesetze auswerten, die in dem jeweiligen Fall eine Rolle spielen könnten. Dazu benötigt man einen Überblick über die vorhandenen Gesetze und ein allgemeines Verständnis davon, welche gesellschaftlichen Interessenlagen dort in welchem Sinne geregelt sind.
Ist man mit Überblick und systematischem Verständnis auf die einschlägigen Gesetze gekommen, dann stellt sich weiter die Frage, nach welcher Regel genau der Fall zu prüfen ist. Juristen nennen das die Suche nach Anspruchsgrundlagen. Damit ist Folgendes gemeint:
Ob einer der Beteiligten von einem anderen etwas verlangen darf, ist Sache der Gesetze aber nicht Sache von Gesetzen schlechthin, sondern, genauer betrachtet, Sache derjenigen Gesetze, aus denen es heraus überhaupt möglich erscheint, eine dem jeweiligen Interesse entsprechenden Anspruch herzuleiten. Das ist aber zunächst Frage nach der passenden Rechtsfolge.
Die Aufgabe von Juristen besteht also darin, in einschlägigen Gesetzen genau die, aber auch nur diejenigen Regeln zu bestimmen, deren Rechtsfolge überhaupt auf das passt, was einer der Beteiligten will oder zumindest wollen könnte oder sollte. Wenn diese Aufgabe bewerkstelligt ist, so lautet das Ergebnis:
„A könnte einen Anspruch auf … (Interesse) gegen B haben aus den §§ ….“
Nur wenn ein solches Ergebnis gewonnen ist, dass nämlich in irgendeinem der unzähligen Paragraphen als Rechtsfolge angeordnet ist, was dem Interesse A’s gegen B entspricht, lohnen sich erst alle weiteren rechtlichen Überlegungen. Lässt sich nämlich eine solche Rechtsfolge überhaupt nicht finden, steht schon allein deswegen fest, dass A gegen B von vornherein keinen Anspruch hat.
Beispiel: Ein Beispiel, das tatsächlich vom Bundesgerichtshof (Flugreisefall) zu entscheiden war:
Ein Minderjähriger schafft es, an allen Kontrollen vorbei im Flughafen Köln/Bonn die Maschine der Lufthansa nach New York zu besteigen und wird vom Personal an Bord erst weit über dem Atlantik entdeckt. Die Lufthansa befördert ihn postwendend nach Köln zurück und will jetzt von dem Kleinen und/oder dessen Eltern Aufwändungsersatz.
Jetzt hat es überhaupt keinen Sinn, allgemein über Vorwürfe an den Kleinen, dessen Eltern oder die Lufthansa zu räsonnieren, sondern die Fragen lauten:
Antwort:
Es geht um Vermögensinteressen zwischen Bürgern, also schauen wir im BGB. Dort ist das Schuldrecht (2. Buch) einschlägig, in dem es um die Begründung und Begleichung von Schulden geht. Da ein Vertrag nicht geschlossen wurde, sind einschlägig nur die gesetzlichen Schuldverhältnisse, 8. Abschnitt Titel 26 (Ungerechtfertigte Bereicherung) und Titel 27 (Unerlaubte Handlung). Von Aufwändungsersatz ist auf der Rechtsfolgenseite aller dort stehenden Regeln keine Rede, außerdem stellt sich die Frage: Hatte die Lufthansa überhaupt Aufwändungen? Geflogen ist sie so oder so, und Benzinmehrkosten wegen Mehrgewicht des Minderjährigen werden auch keine Rolle gespielt haben. Der BGH hat damals entschieden, dass es keinen Aufwändungsersatzanspruch gibt, aber so weiter gemacht: Vielleicht kann die Lufthansa dennoch Geld verlangen, weil der Minderjährige eine kostenlose Reise nach New York erlangt hat, und hat dann die §§ 812 ff. geprüft.
Wenn man so ermittelt hat, dass es einen Anspruch aufgrund der dort angeordneten Rechsfolge in einem bestimmten Pragraphen geben könnte, so geht die weitere Gedankenführung mit der Überlegung weiter:
VORAUSGESETZT IST ….
Jetzt geht es darum, jede einzelne Voraussetzung des genannten Anspruchs daraufhin zu prüfen, ob sie in dem vorliegenden Fall erfüllt ist. Dieser Denkschritt zerfällt seinerseits in zwei Teile:
Erstens ist festzustellen, was die genannte Voraussetzung überhaupt aussagt, und zwar allgemein und begrifflich. Diese Auslegung, die genauere Definition (= Bestimmung) des genannten Begriffs kann seinerseits in einem anderen Paragrafen, durch eine andere Regel definiert sein,
Beispiele: Was „fahrlässig“, z.B. in § 823 I 1 BGB, besagt, ist gesetzlich in § 276 II BGB definiert – „Legaldefinition“
ansonsten ist die Auslegung nach Wortlaut, nach systematischem Zusammenhang und nach Sinn und Zweck der Norm vorzunehmen. Wenn ihnen dazu nichts einfällt, schauen Juristen in Lehrbüchern und Kommentaren nach.
Im zweiten Schritt wird gefragt, ob die genannte Voraussetzung nach Maßgabe ihres ausgelegten Verständnisses in dem vorliegenden Falle erfüllt ist – das ist der einordnende (im Unterschied zu einem theoretischen) Schluss, den Juristen Subsumtion nennen.
Wenn man auf diese Weise alle Tatbestandsvoraussetzungen der Norm durchgegangen und bei allen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass sie jeweils erfüllt sind, dann folgt als Schlussaussage:
ALSO HAT A EINEN ANSPRUCH GEGEN B AUF …
Gaby und Thomas sind seit einigen Jahren zusammen, seit jüngstem auch verheiratet. Gaby ist Sekretärin. Thomas hat einen guten Posten bei der Bahn. Gaby wünscht sich nichts mehr als ein Kind. Thomas steht der Sache eher skeptisch gegenüber. Auf natürlichem Wege hatte es in der Vergangenheit ohnehin nicht geklappt. Weil Gaby aber unbedingt ein Kind haben möchte, ist Thomas schließlich widerstrebend damit einverstanden, ein Kind zu adoptieren. Beide adoptieren nach einem langen und nervenaufreibenden Adoptionsverfahren die neugeborene Janina. Janina entwickelt sich nicht so, wie beide sich dieses gewünscht hätten. Sie zeigt erhebliche Entwicklungsverzögerungen, muss häufig zum Arzt und bedarf intensivster Betreuung. Weil Thomas den ganzen Tag arbeitet, übernimmt Gaby die Betreuung. Ihren Job hat sie deshalb aufgegeben. Die Belastungen führen zu ständigen Streitereien des Paares und schließlich zur Trennung. Im Rahmen des anschließenden Scheidungsverfahrens verlangt Gaby von Thomas Unterhalt und zwar nicht nur für Janina sondern auch für sich. Thomas weist die Forderung empört zurück. Er habe das Kind überhaupt nicht haben wollen. Außerdem sei Janina in Kürze drei Jahre alt und könne in den Kindergarten gehen. Dann könne Gaby wieder arbeiten und für sich selbst sorgen.
Hat Gaby einen Unterhaltsanspruch gegenüber Thomas?
Im Folgenden wird die Falllösung wiedergegeben mit Erläuterungen zur juristischen Methodik, die den jeweiligen Prüfungsschritt im Anspruchsaufbau nachvollziehen. Diese methodischen Überlegungen werden im Rahmen der Falllösung nicht dargestellt. Sie werden hier nur zu Erläuterungszwecken ausgeführt. Die Falllösung ist in Normalschrift, die Erläuterungen in kursiv gesetzt:
Wer: Gaby Gegen wen: Thomas Was: Unterhalt Woraus: Es geht um Interessen im Bürger-Bürger-Verhältnis, wir begeben uns also in’s BGB, dort Familienrecht, dort im 1. Abschnitt die Regeln über Scheidung, insbesondere Unterhaltsansprüche. Einschlägig dort ist § 1570 BGB, also:
Gaby könnte einen Anspruch auf Unterhalt gegenüber Thomas nach § 1570 Absatz 1 BGB haben.
Jetzt nennen wir dessen Voraussetzungen:
Danach hat ein geschiedener Ehegatte gegenüber dem anderen Ehegatten einen Anspruch auf Unterhalt, wenn von ihm wegen der Pflege und Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann.
Jetzt widmen wir uns den Voraussetzungen im Einzelnen, und zwar so, dass sich in Bezug zu dem Fall gesetzt wird:
Erste Voraussetzung ist, dass es sich bei Gaby und Thomas um geschiedene Ehegatten handelt.
Jetzt wird insoweit subsumiert:
Gaby und Thomas werden nach Rechtskraft des Scheidungsurteils geschiedene Ehegatten sein.
Die zweite Tatbestandsvoraussetzung wird unter Herstellung des Bezuges zum Fall wiederholt:
Voraussetzung ist weiter, dass Janina gemeinschaftliches Kind von Gaby und Thomas ist.
Der Begriff „gemeinschaftlich“ ist aus sich heraus unklar und wird von 1570 BGB selbst nicht erklärt, er muss deswegen ausgelegt werden. Der Begriff „gemeinschaftliches Kind“ wird an anderer Stelle des Gesetzes erläutert:
Dies könnte fraglich sein, da Janina nicht das leibliche Kind von Gaby und Thomas, sondern (lediglich) deren Adoptivkind ist. Nach § 1754 BGB sind Adoptivkinder jedoch gemeinschaftlichen Kindern der Ehegatten gleichgestellt.
Die zweite Tatbestandvoraussetzung wird nun nach Begriffsklärung subsumiert:
Damit ist auch Janina ein gemeinschaftliches Kind i.S.d. § 1570 BGB.
Die dritte Tatbestandvoraussetzung wird unter Herstellung des Bezuges zum Fall wiederholt:
Schließlich ist Voraussetzung, dass von Gaby wegen der Pflege und Erziehung des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann.
Zum Teil ist die Subsumtion klar:
Gaby pflegt und erzieht Janina.
Der Begriff „erwartet werden“ wird im Gesetz aber nicht geklärt. Es bedarf deshalb der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes. In der Praxis hilft man sich mit Kommentaren. In der Klausur reicht der Hinweis auf die Rechtsprechung oder die „herrschende Meinung“ (hM). Kennt man diese nicht, muss man argumentieren.
Unter welchen Voraussetzungen eine Erwerbstätigkeit wegen der Pflege und Erziehung des Kindes nicht „erwartet werden“ kann, lässt das Gesetz offen. Die Gerichte gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass vom geschiedenen Ehegatten eine Erwerbstätigkeit in der Regel bis zum 8. Lebensjahr des Kindes nicht erwartet werden kann.
Die dritte Tatbestandvoraussetzung wird nun nach „Auslegung“ (Terminus technicus) subsumiert.
Da Gründe für ein Abweichen von dieser Regel nicht ersichtlich sind und Janina erst 3 Jahre alt ist, kann von Gaby eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden.
Nach Bejahung aller Tatbestandsmerkmale folgt der Schluss auf die Rechtsfolge.
Damit sind alle Tatbestandvoraussetzungen des § 1570 BGB erfüllt. Gaby hat einen Anspruch auf Unterhalt gegenüber Thomas. Über die Höhe des Unterhaltsanspruches können keine Aussagen getroffen werden, weil der Sachverhalt dazu keine Angaben enthält.
Gaby könnte einen Anspruch auf Unterhalt gegenüber Thomas nach § 1570 BGB haben, wonach ein geschiedener Ehegatte gegenüber dem anderen Ehegatten einen Anspruch auf Unterhalt hat, wenn von ihm wegen der Pflege und Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann.
Erste Voraussetzung ist, dass es sich bei Gaby und Thomas um geschiedene Ehegatten handelt. Gaby und Thomas werden nach Rechtskraft des Scheidungsurteils geschiedene Ehegatten sein.
Voraussetzung ist weiter, dass Janina gemeinschaftliches Kind von Gaby und Thomas ist. Dies könnte fraglich sein, da Janina nicht das leibliche Kind von Gaby und Thomas, sondern (lediglich) deren Adoptivkind ist. Nach § 1754 BGB sind Adoptivkinder jedoch gemeinschaftlichen Kindern der Ehegatten gleichgestellt. Damit ist auch Janina ein gemeinschaftliches Kind i.S.d. § 1570 BGB.
Schließlich ist Voraussetzung, dass von Gaby wegen der Pflege und Erziehung des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Gaby pflegt und erzieht Janina. Unter welchen Voraussetzungen eine Erwerbstätigkeit wegen der Pflege und Erziehung des Kindes nicht „erwartet werden“ kann, lässt das Gesetz offen. Die Gerichte gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass vom geschiedenen Ehegatten eine Erwerbstätigkeit in der Regel bis zum 8. Lebensjahr des Kindes nicht erwartet werden kann. Da Gründe für ein Abweichen von dieser Regel nicht ersichtlich sind und Janina erst 3 Jahre alt ist, kann von Gaby eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden.
Damit sind alle Tatbestandvoraussetzungen des § 1570 BGB erfüllt. Gaby hat einen Anspruch auf Unterhalt gegenüber Thomas. Über die Höhe des Unterhaltsanspruches können keine Aussagen getroffen werden, weil der Sachverhalt dazu keine Angaben enthält.