Florian Gerlach

Seminare zum „Recht der Sozialen Arbeit“

Evangelische Hochschule Bochum

Grundbegriffe und Prinzipien des Teilhaberechtes

Einführung

Im Folgenden werden Grundbegriffe und Prinzipien des Eingliederungshilfe- und Teilhaberechts erläutert.

Behinderung

Der Behinderungsbegriff ist im Teilhaberecht von zentraler Bedeutung. Denn nur wenn eine Behinderung vorliegt oder zumindest droht, kommt das Teilhaberecht zur Anwendung.

Bis zum 31.12.2017 galt laut § 2 SGB IX a.F. eine zweigliedrige Definition von Behinderung: Menschen galten als behindert, wenn

  1. „ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher“ (medizinischer Teil)
  2. „ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt „ war (sozialer Teil).

Dieser Begriff der Behinderung ging also davon aus, dass sich aus der medizinischen Beeinträchtigung unmittelbar die soziale Teilhabebeeinträchtigung ergibt.

Dieser Behinderungsbegriff wurde mit dem Bundesteilhabegesetz an den Behinderungsbegriff der UN Behindertenrechtskonvention angepasst und hat sich in einem Aspekt entscheidend verändert: Seit dem 01.01.2018 gelten als Menschen mit Behinderung „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.“. Während der medizinische Teil dieses Behinderungsbegriffes also weitgehend gleichgeblieben ist, hat sich der soziale Teil des Behinderungsbegriffes gewandelt. Die neue Fassung des Behindertenbegriffes geht nunmehr davon aus, dass sich die Behinderung nicht unmittelbar aus der medizinischen Beeinträchtigung selbst ergibt, sondern erst aus einer Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Barrieren, auf die die betroffenen Menschen treffen. Als Barrieren gelten dabei zum einen umweltbedingte bauliche und technische Barrieren (also z.B. bauliche Anlagen, Verkehrsmittel oder visuelle Kommunikationsmittel). Umfasst sind aber auch sogenannte einstellungsbedingte Barrieren wie Vorurteile, Unkenntnis oder Kommunikationshemnisse. Insgesamt Lesen Siee sich der neue Behinderungsbegriff auch mit folgendem Satz beschreiben: Menschen sind nicht behindert, Menschen werden behindert.

Der medizinische Teil des Behinderungsbegriff geht von vier möglichen Formen der Beeinträchtigungen aus: er kennt körperliche, geistige seelische und Sinnesbeeinträchtigungen. Jede Art der Beeinträchtigung darf dabei nicht nur vorübergehend, also voraussichtlich kürzer als 6 Monate vorliegen und muss sich als ein Zustand darstellen, der von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. So werden zum einen nur vorübergehende Erkrankungen vom Behindertenbegriff ausgeschlossen. Zudem werden Funktionsbeeinträchtigungen ausgenommen, die sich gerade als typische altersbedingte Störungen darstellen. Eine Ausnahme bildet hier die Pflegebedürftigkeit, die auch dann eine Behinderung darstellen kann, wenn sie alterstypisch ist. Im Einzelnen:

  1. Körperliche Beeinträchtigungen sind dabei organische oder orthopädische Funktionsstörungen. Ausgangspunkt ist dabei eine körperliche Regelwidrigkeit. Aus dieser muss sich eine nicht nur vorübergehende Beeinträchtigung der Körperfunktionen ergeben.
  2. Geistige Beeinträchtigungen sind intellektuelle und kognitive Beeinträchtigungen. Die Betroffenen sind in ihrem geistigen Kräften geschwächt. Beispiele sind frühkindliche Hinrschädigungen, Imbezillität oder Demenzerkrankungen. Als Diagnosemittel kann z.B. ein IQ-Test dienen.
  3. Eine seelische Beeinträchtigung erfordert eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit infolge seelischer Störungen. Synonym kann auch der Begriff psychische Behinderung verwendet werden. In Abgrenzung zur geistigen Beeinträchtigung sind diese Personen also nicht in ihren geistigen Kräften geschwächt, sondern leiden unter einer psychischen Erkrankung. Beispiele sind psychische oder Verhaltensstörungen, Schizophrenie, wahnhafte Störungen, affektive Störungen, Verhaltensstörungen oder Entwicklungsstörungen.
  4. Bei Sinnesbeeinträchtigungen handelt es sich genau genommen um eine Unterform der körperlichen Beeinträchtigungen. Umfasst sind alle Funktionsstörungen der körperlichen Sinne, also des Seh- oder Hörvermögens, des Geruchs- Geschmacks- oder Tastsinns.

Teilhabe und Rehabilitation

Das SGB IX regelt die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Beide Begriffe werden im SGB IX nicht klar voneinander abgegrenzt und zum Teil synonym gebraucht. Während zum Beispiel § 4 von „Leistungen zur Teilhabe“ spricht, werden in § 6 die „Rehabilitationsträger“ genannt, die die Leistungen zur Teilhabe erbringen. In der juristischen Literatur wird der Begriff der Teilhabe als der modernere und umfassendere Begriff verstanden. Für die anwaltschaftliche Begleitung und Vertretung der Menschen mit Behinderungen ist die Differenzierung nicht erheblich. Wichtig ist, dass die Leistungen als Leistungen zur Teilhabe und die Träger die Leistungen zur Teilhabe zu erbringen haben, als Rehabilitationsträger bezeichnet werden.

Lesen Sie: §§ 46 SGB IX

Das SGB IX als „Allgemeiner Teil“

Das SGB IX hat gleichzeitig die Funktion eines allgemeinen Teils im Bereich des Teilhaberechts: Die Regelungen des Teils 1 des SGB IX gelten grundsätzlich für alle Leistungen zur Teilhabe und sind deshalb von allen Rehabilitationsträgern, die Leistungen zur Teilhabe erbringen, zu beachten.

Lesen Sie: § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IX

Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen: Wenn das für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltende Leistungsgesetz Abweichendes regelt, gelten dessen jeweils besondere Regelungen. Diese Ausnahme nennt man: „Vorbehalt abweichender Regelungen“.

Von dieser Ausnahme gibt es eine Rückausnahme: Abweichend von der vorgenannten Ausnahmeregelung (Vorrang der abweichenden Regelung im speziellen Leistungsgesetz) gehen die Vorschriften der Kapitel 2 bis 4 den für die jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen vor. Von den Vorschriften in Kapitel 4 kann durch Landesrecht nicht abgewichen werden. Folgende Regelungsbereiche des SGB IX haben also stets Vorrang von etwa abweichenden Regelungen des jeweils speziellen Gesetzes:

  • Einleitung der Rehabilitation von Amts wegen
  • Erkennung und Ermittlung des Rehabilitationsbedarfes
  • Koordinierung der Leistungen

Beispiel: Julius ist 9 Jahre alt. Er wurde wegen erheblicher Verhaltensauffälligkeiten vom Unterricht ausgeschlossen. Er benötigt eine Schulbegleitung. Es ist davon auszugehen, dass ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach §35a SGB VIII wegen einer seelischen Behinderung besteht. Die Gutachten und damit auch ein Bescheid stehen aus. Die Eltern wollen sich die Hilfe selbst beschaffen. Sowohl § 35a Abs. 3 SGB VIII als auch § 18 SGB IX enthalten Regelungen zur Selbstbeschaffung. Welche dieser Regelung im Vorliegenden Fall gilt, regelt § 7 SGB IX: Nach der Grundregel gelten die Vorschriften des Teil 1 des SGB IX. Damit gilt auch § 18 Abs. 4 SGB IX, der die Voraussetzungen der Selbstbeschaffung regelt. Nach der in § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IX geregelten Ausnahme gelten die Vorschriften des Teil 1 jedoch nur, soweit das jeweilige Leistungsgesetz keine abweichende Regelung enthält. § 36a Abs. 3 SGB VIII enthält hinsichtlich der Selbstbeschaffung eine abweichende Regelung, so dass diese Regelung wegen des sogenannten Vorbehalts abweichender Regelungen scheinbar Anwendung findet. Tatsächlich ist jedoch § 18 Abs. 4 SGB IX anzuwenden, weil die Rückausnahme in § 7 Abs. 2 SGB IX vorsieht, dass die Vorschriften der Kapitel 2 – 4 den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Vorschriften vorgehen. § 18 Abs. 4 SGB IX ist im 4. Kapitel des SGB IX geregelt. Die Vorschrift geht deshalb vor. Anwendbar ist deshalb allein § 18 Abs. 4 SGB IX.

Zielbestimmungen

Das Teilhaberecht regelt Leistungsansprüche zugunsten von Menschen mit Behinderungen. Mit diesen Leistungen soll die Selbstbestimmung und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft gefördert werden. Benachteiligungen sollen vermieden werden. Ihnen soll entgegengewirkt werden.

Lesen Sie: § 1 SGB IX

Die im Teilhaberecht geregelten Leistungsansprüchen heißen „Leistungen zur Teilhabe“. Sie umfassen die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung

  1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,
  2. Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern,
  3. die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder
  4. die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Besondere Anforderungen an Leistungen zur Teilhabe gelten für Kinder mit Behinderungen. Leistungen für Kinder mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Kinder müssen so geplant und gestaltet werden, dass nach Möglichkeit Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt werden. Sie sollen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen betreut werden. Kinder mit Behinderungen sind – je nach Alter und Entwicklung – an der Planung und Ausgestaltung der einzelnen Hilfen zu beteiligen. Ihre Sorgeberechtigten müssen intensiv in die Planung und Gestaltung der Hilfen einbezogen werden.

Lesen Sie: § 4 SGB IX

Leistungsgruppen

Die Leistungen zur Teilhabe sind in sogenannte Leistungsgruppen aufgeteilt. Die Leistungsgruppen sind in § 5 SGB IX abschließend aufgezählt. Es gibt folgende Leistungsgruppen:

  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation,
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben,
  • unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen,
  • Leistungen zur Teilhabe an Bildung und
  • Leistungen zur sozialen Teilhabe.

Welche Leistung zur welcher Leistungsgruppe gehört, ergibt sich aus den Kapiteln 9 bis 13 des Teils 1 des SGB IX. Einen schnellen Überblick erhält man, über die Inhaltsübersicht des SGB IX. Die den einzelnen Leistungsgruppen zugehörigen Leistungen werden im SGB IX wie folgt abgebildet:

  • Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Kapitel 9,
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Kapitel 10,
  • unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen Kapitel 11,
  • Leistungen zur Teilhabe an Bildung Kapitel 12,
  • Leistungen zur sozialen Teilhabe Kapitel 13.

Die Aufteilung in Leistungsgruppen ist von großer praktischer Bedeutung für die Klärung der Frage, welcher Rehabilitationsträger für die jeweilige Leistung zuständig ist: Die Zuständigkeit ist nämlich zunächst davon abhängig, welcher Leistungsgruppe die im Einzelfall begehrte Leistung angehört. Dies hat seinen Grund darin, dass die Rehabilitationsträger jeweils nur für bestimmte Leistungsgruppen zuständig sein können. Einzelheiten werden im Abschnitt über die Zuständigkeiten erklärt.

Anspruchsgrundlagen im Teilhaberecht

Teilhabeleistungen sind Sozialleistungen. Sozialleistungen sind in verschiedenen Sozialleistungsgesetzen des Sozialgesetzbuches sowie weiteren Einzelgesetzen, die als Teil des Sozialgesetzbuches gelten (vgl. § 68 SGB I) geregelt. Teilhabeleistungen, also die Leistungsansprüche zugunsten von Menschen mit Behinderungen sind in verschiedenen Gesetzen geregelt und über die gesamten Sozialgesetzbücher verstreut.

Diese Sozialgesetzbücher enthalten Teilhabeleistungen:

  • SGB II: Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende
  • SGB III: Arbeitsförderung
  • SGB V: Gesetzliche Krankenversicherung
  • SGB VI: Gesetzliche Rentenversicherung
  • SGB VII: Gesetzliche Unfallversicherung
  • SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe
  • SGB IX: Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
  • SGB XIV (ab 2024): Soziale Entschädigung

Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Leistungsgesetze und die in ihnen enthaltenen Anspruchsgrundlagen für Leistungen zur Teilhabe in den verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuches. Zu jeder Anspruchsgrundlage ist dargestellt, ob es sich um einen Rechtsanspruch, einen Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung oder um einen sog. Regelrechtsanspruch („Soll-Leistung“) handelt. Soweit ein Antragserfordernis besteht, ist dies ebenfalls vermerkt.

GesetzBezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
SGB II
Leistungen zur Eingliederung§ 16 I 3§ 37
SGB III
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
Teilhabe am Arbeitsleben§ 112
Leistungen zur Teilhabe§ 113
SGB V
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
Leistungen zur medizinischen Reha§ 40
Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation§ 43
Nichtärztliche sozialpädiatrische Leistungen§ 43a
Nichtärztliche Leistungen für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen§ 43b
Digitale Gesundheitsanwendungen
SGB VI
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
Leistungen zur Prävention§ 14
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation§ 15
Leistungen zur Kinderrehabilitation§ 15a
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben§ 16
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation§ 15
Leistungen zur Nachsorge§ 17
Übergangsgeld§ 20
Ergänzende Leistungen§ 28
Sonstige Leistungen§ 31
SGB VII
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
SGB VIILeistungen zur medizinischen Rehabilitation§ 27
SGB VIITeilhabe am Arbeitsleben§ 35
SGB VIIHilfen zu einer angemessenen Schulbildung§ 35
SGB VIISoziale Teilhabe und ergänzende Leistungen§ 39
SGB VIIKraftfahrzeughilfe§ 40
SGB VIIWohnungshilfe§ 41
SGB VIIHaushaltshilfe§ 42
SGB VIIKinderbetreuungskosten§ 42
SGB VII Reisekosten§ 43
SGB VIII
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche§ 35a
SGB IX
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
Eingliederungshilfe§ 99 I
Eingliederungshilfe§ 99 III
SGB XIV (ab 2024)
Bezeichnung der LeistungRechtsanspruchSoll-LeistungErmessenAntragserfordernis
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben§ 63
Leistungen zur Teilhabe an Bildung§ 65
Leistungen zur Sozialen Teilhabe§ 66

Das SGB IX als Leistungsgesetz

Welche Rolle spielt nun das Eingliederungshilferecht im System des Teilhaberechts? Das SGB IX nimmt unter den vorstehenden Gesetzen eine besondere Rolle ein. Obwohl der Titel dieses Gesetzes – „Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ – dies erwarten lässt, regelt das SGB IX nur einen Ausschnitt aus den Leistungsansprüchen zugunsten von Menschen mit Behinderungen: Teil 2 des SGB IX regelt das sogenannte Eingliederungshilferecht. Die dort geregelten Leistungen heißen Leistungen der Eingliederungshilfe.

Das SGB IX ist damit in seinem Teil 2 ein Leistungsgesetz. Gegenstand des Eingliederungshilferechts sind Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen.

Leistungen der Eingliederungshilfe sind ein Unterfall von Leistungen zur Teilhabe. Das Eingliederungshilferecht ist ein Teilbereich des Teilhaberechts.

Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.

Lesen Sie: § 90 Abs. 1 SGB IX

Das Schwerbehindertenrecht im SGB IX

In Teil 3 des SGB IX ist das sog. Schwerbehindertenrecht geregelt. Im Schwerpunkt geht es beim Schwerbehindertenrecht um die Eingliederung von Schwerbehinderten in Ausbildung und Beruf. Daneben ist es im Kontext zahlreicher Nachteilsausgleiche von Bedeutung. Das Schwerbehindertenrecht wird in diesem Lexikon nicht eingehend erörtert, weil es nicht zu den originären Beratungsinhalten der Verfahrenslotsinnen und Verfahrenslotsen gehört.

Nachranggrundsatz

Der Nachranggrundsatz bezeichnet ein sozialrechtliches Grundprinzip bzw. Grundproblem. Es hat seine Wurzel in dem Umstand, dass Ansprüche auf bestimmte Sozialleistungen in verschiedenen Leistungsgesetzen verankert sein und deshalb miteinander konkurrieren können.

Beispiel: Luca ist 17. Sie wurde in einer Nacht von Samstag auf Sonntag auf dem Rückweg von einem Club auf offener Straße Opfer eines gewaltsamen Überfalls. Seitdem leidet sie unter einer akuten Belastungsreaktion F43.0. Das Störungsbild ist derart ausgeprägt, dass eine altersangemessene Teilnahme am Alltagsleben fast nicht mehr möglich ist. Weil ihre Eltern Sie nicht angemessen unterstützen können, möchte Sie in einer auf dieses Störungsbild spezialisierten Einrichtung in Hannover stationär wohnen. Bei der begehrten Leistung handelt es sich um eine Leistung zur Sozialen Teilhabe. Ansprüche auf Leistungen zur sozialen Teilhabe finden sich in verschiedenen Sozialleistungsgesetzen, nämlich im

  • SGB IX
  • SGB VIII
  • SGB VII sowie im
  • SGB XIV

Zuständig für die Leistung könnten deshalb der Träger der Eingliederungshilfe, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, der Träger des gesetzlichen Unfallversicherung sowie der Träger der sozialen Entschädigung sein.

Welcher der genannten Träger im Ergebnis zuständig ist, wird über sogenannte Vorrang- bzw. Nachrangreglungen gelöst.

In dem vorstehenden Fall ergibt sich z.B. eine vorrangige Zuständigkeit des Trägers der sozialen Entschädigung, weil die Behinderung Folge einer Gewalttat ist und somit ein sogenannter „Entschädigungstatbestand“ im Sinne des SGB XIV vorliegt. Zwar werden Leistungen zur sozialen Teilhabe bei Vorliegen einer selischen Behinderung grundsätzlich durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewährt. § 10 Abs. 1 SGB VIII regelt jedoch den Vorrang anderer Sozialleistungen und damit den Nachrang von Jugendhilfeleistungen.

Der Nachranggrundsatz ist im SGB VIII und im SGB IX jeweils unterschiedlich ausgestaltet.

Lesen Sie: § 10 SGB VIII

Lesen Sie: § 91 SGB IX und § 93 SGB IX

Auch die Regelungen zu den Kostenbeiträgen im SGB VIII sowie zu dem Einsatz von Einkommen und Vermögen im SGB IX sind Ausdruck des Nachranggrundsatzes.

Welche Teilhabeleistungen im Einzelnen zu welchen anderen Teilhabeleistungen vor- bzw. nachrangig sind, wird im Abschnitt „Sachliche Zuständigkeit“ näher erläutert.

Selbstbestimmungsrecht

Das Selbstbestimmungsrecht ist als zentrales Grundprinzip in § 1 SGB IX normiert. Das Selbstbestimmungsrecht ist bei der Auslegung sämtlicher Bestimmungen des Teilhaberechts zu berücksichtigen. Auch bei der Ausübung von Ermessen bzw. Beurteilungsspielraum ist es von zentraler Bedeutung. Das Selbstbestimmungsrecht ist im Eingliederungshilferecht bei der Wahlfreiheit bezüglich der Wohnform explizit verankert.

Lesen Sie: § 104 Abs. 3 S. 3

Wunsch- und Wahlrecht

Das Wunsch und Wahlrecht ist an verschiedenen Stellen im Sozialgesetzbuch verankert. Es soll die Bereitschaft zu Annahme der Leistung und zur Mitwirkung bei der Leistungserbringung verankert. Als allgemeiner Grundsatz des Sozialrechts ist es im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches und als allgemeiner Grunsatz des Teilhaberechts auch in Teil 1 des SGB IX verankert.

Lesen Sie: § 33 S. 2 SGB I

Für das Recht der Eingliederungshilfe existieren Spezialregelungen sowohl im SGB VIII als auch im SGB IX.

Wunsch- und Wahlrecht in der Kinder- und Jugendhilfe

Mitentscheidungsrechte

Das Wunsch- und Wahlrecht eröffnet den Betroffenen das Recht, Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern und den Leistungserbringer selbst auszuwählen, sofern keine unverhältnismäßigen Mehrkosten vorliegen.

Lesen Sie: § 5 SGB VIII

Wer über die Gestaltung der Hilfe und den jeweiligen Leistungserbringer mitentscheiden darf, wird der Hilfe als solcher ein größeres Vertrauen entgegenbringen. Dieses Vertrauen ist eine unerlässliche Voraussetzung für den Erfolg einer Hilfemaßnahme, weil diese sich an den Willen der Jugendhilfeadressaten richtet. Die Subjektstellung der Berechtigten wird also gestärkt und insofern die Akzeptanz der Inanspruchnahme der Hilfe gefördert.

Beschränkungen des Wahlrechts

Das Wahlrecht ist in doppelter Hinsicht beschränkt:

  • Zum einen dürfen keine unverhältnismäßigen Mehrkosten entstehen.
  • Wenn es um stationäre oder teilstationäre Maßnahmen geht, ist das Wahlrecht darüber hinaus grundsätzlich auf Einrichtungen beschränkt, mit denen einen Jugendamt eine Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarung abgeschlossen hat.

Unverhältnismäßige Mehrkosten

Der Wahl und den Wünschen des Leistungsberechtigten ist nicht zu folgen, wenn dadurch unverhältnismäßige Mehrkosten entstehen.

Die Rechtsprechung geht davon aus, dass es keine starre Grenze für die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit gibt. Das Bundesverwaltungsgericht verlangt eine wertende Betrachtung.

Vgl.: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. August 2003, Aktenzeichen 5 B 14/03

Zum Teil wird mit einer 20%-Grenze argumentiert.

Das Verwaltungsgericht LeipzigUrteil vom 22.11.2007, Aktenzeichen 5 K 1733/05 –, Rn. 43 hält diesen Maßstab für „akzeptabel“ (Bezahlschranke, freier Link leider nicht verfügbar).

Vertragsgebundene Einrichtungen

Bei stationären und teilstationären Angeboten soll die Leistungserbringung grundsätzlich in Einrichtungen erfolgen, mit denen einen Jugendamt eine Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarung abgeschlossen hat (vertragsgebundene Einrichtungen). Das Gesetz beschränkt das Wunsch- und Wahlrecht daher auf solche Einrichtungen.

Lesen Sie: § 5 Abs.2 S.2 SGB VIII

Eine Ausnahme gilt dann, wenn im Hilfeplanverfahren die Leistungserbringung gerade in der bestimmten Einrichtung erfolgen soll, mit der keine entsprechende Vereinbarung bestehts. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Einrichtung lediglich eine Vereinbarung für ein Regelangebot, nicht aber für ein Intensivangebot hat. Benötigt ein bereits betreutes Kind ein Intensivangebot, kann es fachlich geboten sein, dieses wegen der bestehenden Bindungen in der Einrichtung zu belassen.

Wunsch- und Wahlrecht in der Eingliederungshilfe

Bei Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 99 ff. SGB IX haben die Leistungsberechtigten ein Wunschrecht.

Angemessenheit des Wunsches

Dieses Wunschrecht ist auf sogenannte „angemessene“ Wünsche beschränkt. Wünsche gelten als nicht angemessen, wenn und soweit die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern, mit denen eine Vereinbarung nach Kapitel 8 besteht, unverhältnismäßig übersteigt. Sie gelten auch dann nicht als angemessen, wenn der Bedarf nach der Besonderheit des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung gedeckt werden kann.

Lesen Sie: § 104 Abs. 1 SGB IX

Die Regelung konkretisiert das in Teil 1 des SGB IX niedergelegte allgemeine Wunsch- und Wahlrecht.

Lesen Sie: § 104 Abs. 3 SGB VIII

Zumutbarkeit abweichender Leistungserbringung

Will der Träger der Eingliederungshilfe Leistungen erbringen, die vom Wunsch des Hilfesuchenden abweichen, muss er prüfen, ob dem Leistungsberechtigten diese abweichende Leistungserbringung zugemutet werden kann. Dabei sind insbesondere die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände einschließlich der gewünschten Wohnform angemessen zu berücksichtigen.

Besonderes Gewicht hat der Wunsch des Hilfesuchenden, nicht in einer sogenannten „besonderen Wohnform“, also einem Wohnheim oder in der Wohngruppe in einer Einrichtung zu leben. Wünscht der Leistungsberechtigte ein Wohnen außerhalb einer besonderen Wohnform, ist diesem der Vorzug zu geben. Soweit die leistungsberechtigte Person dies wünscht, sind in diesem Fall die im Zusammenhang mit dem Wohnen stehenden Assistenzleistungen nach § 113 Absatz 2 Nummer 2 im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen und der persönlichen Lebensplanung nicht gemeinsam zu erbringen nach § 116 Absatz 2 Nummer 1. Bei Unzumutbarkeit einer abweichenden Leistungsgestaltung ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen.

Lesen Sie: § 104 SGB IX

Wird von der leistungsberechtigten Person Wohnen außerhalb einer besonderen Wohnform gewünscht, ist diesem der Vorzug zu geben (Abs. 3 S. 3). Die individuellen Bedarfe müssen gedeckt sein. Die hierdurch für die Gestaltung sozialer Beziehungen und der persönlichen Lebensplanung erforderliche Assistenz ist nicht gemeinschaftlich zu erbringen, wenn die leistungsberechtigte Person dies wünscht (Abs. 3 S. 4). Eine unzumutbare Leistung ist bei Feststellung der Angemessenheit nur daraufhin zu überprüfen, ob sie die qualitativen Anforderungen erfüllt und mit ihr das Teilhabeziel erreicht werden kann (vgl. BT-Drs. 18/9522, 280).

Kommt danach ein Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen in Betracht, ist dieser Wohnform der Vorzug zu geben, wenn dies von der leistungsberechtigten Person gewünscht wird. Soweit die leistungsberechtigte Person dies wünscht, sind in diesem Fall die im Zusammenhang mit dem Wohnen stehenden Assistenzleistungen nach § 113 Absatz 2 Nummer 2 im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen und der persönlichen Lebensplanung nicht gemeinsam zu erbringen nach § 116 Absatz 2 Nummer 1. Bei Unzumutbarkeit einer abweichenden Leistungsgestaltung ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen.

Vergleichbarkeit von Angeboten

Ein Wahlrecht kann es nur geben, wenn zwei oder mehr Angebote geeignet sind, den Bedarf des oder der Leistungsberechtigten zu decken und das Teilhabeziel zu erreichen. Leistungsangebote, die nicht bedarfsdeckend sind, scheiden aus dem Kreis der zu wählenden Einrichtungen aus. Verursacht ein Angebot zwar deutlich geringere Kosten, ist es aber nicht geeignet, den Bedarf des oder der Leistungsberechtigten zu decken, ist es beim Wunsch- und Wahlrecht nicht zu berücksichtigen. Die Frage, ob ein Angebot bedarfsdeckend ist oder nicht, ist eine fachlich inhaltliche Frage und keine Frage von Mehrkosten.

Will der Eingliederungshilfeträger auf eine andere bedarfsdeckende Leistung verweisen. Er muss dem Leistungsberechtigten ein konkretes Angebot unterbreiten. Nur so kann er dieses auf seine Zumutbarkeit hin überprüfen.

Meistbegünstigungsprinzip

Das Meistbegünstigungsprinzip ist ein allgemeiner Grundsatz des Sozialrechts. Es bedeutet, dass bei der Auslegung von Anträgen der erkennbare wirkliche Wille des Antragstellers maßgebend ist. Es kommt also nicht auf das Gesagte, sondern das erkennbar Gemeinte an. Die Behörde muss bei der Antragsprüfung davon auszugehen, dass der Antragsteller alle nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt. Dies gilt unabhängig davon, welchen Antragsvordruck er hierfür benutzt oder welche Formulierungen er selbst dafür benutzt.