Florian Gerlach

Seminare zum „Recht der Sozialen Arbeit“

Evangelische Hochschule Bochum

Sorgerecht – Entzug und Beschränkung

Überblick

Das Sorgerecht kann durch das Familiengericht beschränkt oder entzogen werden. Bei minderjährigen Eltern ist das Sorgerecht bereits durch das Gesetz eingeschränkt.

Das Gesetz kennt folgende Fallgruppen, in den es zum Entzug oder zur Beschränkung von Sorgerecht kommen kann:

  • Kindeswohlgefährdung
  • Trennung und Scheidung
  • Meinungsverschiedenheiten der Eltern
  • minderjährige Eltern
  • längere Krankheit oder Abwesenheit der Eltern

Bei einer Gefährdung des Kindswohls kann das Familiengericht ist das Sorgerecht der Eltern eingreifen.

Lies: § 1666 Abs. 1 BGB

Voraussetzungen

Voraussetzungen für einen Eingriff sind:

  • eine Kindeswolgefährdung
  • Eltern wollen oder können die Gefahr nicht abwenden

Rechtsfolge

  • das Gericht muss die „erforderlichen Maßnahmen“ treffen.

Begriff der Kindeswohlgefährdung

„Kindeswohlgefährdung“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten nicht nur beschreibende, sondern auch wertende Elemente. Diese müssen durch einzelfallbezogene Auslegung konkretisiert werden.

Nach der Definition des Bundesgerichtshofes gilt: „Eine gegenwärtige, oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung muss abzusehen sein, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ (Ständige Rspr. des BGH).

Erforderlich ist eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts („ziemliche Sicherheit“). Damit sind z.B. Umstände in der Vergangenheit nur als Anhaltspunkte für eine gegenwärtige Gefahrenlage beachtlich, im Übrigen aber unerheblich. Andererseits braucht ein Schaden noch nicht eingetreten zu sein. Mit der Formulierung „erhebliche Schädigung“ wird deutlich, dass nicht jeder (prognostizierte) Schaden ausreicht. Eine „schlechte Erziehung“ reicht nicht. Es ist konkret festzustellen, wofür jeweils eine Schädigung droht.

In die Entscheidung über das Vorliegen einer Kindswohlgefährdung fließen medizinische, psychologische, (sozial)-pädagogische/sozialarbeiterische Erkenntnisse und Wertungen ein. In der Praxis werden hierfür häufig Gutachten durch die Gerichte eingeholt, die zum Beispiel von Kinder- und Jugendpsychiatern, Medizinern oder Sozialarbeitern erstellt werden.

Das Gericht hat eine Einzelfallentscheidung zu treffen und muss alle Aspekte des konkreten Falles und der konkreten Lebenssituation in seine Abwägungsentscheidung einbeziehen. Will man bewerten, ob eine bestimmte Situation eine Kindswohlfährdung darstellt oder nicht, ist eine präzise Auseinandersetzung mit den Tatsachen erforderlich. Wichtig sind insbesondere folgende Aspekte:

  • Gewalt
  • Konfliktlösungsverhalten der Eltern
  • Normgemäßes Verhalten der Eltern
  • Bindungen des Kindes
  • Kindeswille
  • Gesundheitliche Situation
  • Räumliche Situation
  • Kindergarten
  • Schule
  • Haushaltsführung
  • Hygiene

Es ist unwichtig, ob die Eltern ein Verschulden trifft. Denn bei § 1666 geht es um Gefahrenabwehr und nicht um Bestrafung der Eltern.

Auch ist unwichtig, warum die Eltern die Gefahr nicht abwenden. Ob sie nicht bereit sind die Gefahr abzuwenden oder ob sie dieses aus Unfähigkeit nicht können, ist irrelevant.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Mit der Formulierung „erforderliche Maßnahmen“ bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass bei jedem Eingriff in Elternrechte der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt. Wurde eine Kindswohlgefährdung festgestellt, muss das Gericht diejenige Maßnahme wählen, die einerseits geeignet ist, die Kindeswohlgefährdung sicher abzuwenden, gleichzeitig muss es aber bei mehreren zur Verfügung stehenden Maßnahmen das „mildeste Mittel“ wählen.

Beispiel:

Soll das Kind wegen schwerer Vernachlässigung bei Pflegeeltern untergebracht werden, ist davon das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern betroffen. Wenn die Eltern sich nach Beratung durch das Gericht mit der Unterbringung bei Pflegeltern einverstanden erklären, bedarf es keines Sorgerechtseingriffes. Die Beratung ist dann ausreichend gewesen. Ein Sorgerechtseingriff wäre nicht rechtmäßig, weil nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig. Sind die Eltern dagegen mit einer Unterbringung bei Pflegeeltern nicht einverstanden, zeigen sie aber Bereitschaft, weiter an der Erziehung des Kindes mitzuwirken, kommt ein teilweiser Entzug der elterlichen Sorge, nämlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts in Frage. Ein vollständiger Entzug wäre nicht erforderlich, weil das Ziel, das Kind bei Pflegeeltern unterzubringen, durch den bloßen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts erreicht werden kann.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist schon in § 1666 BGB verankert. Wegen seiner Bedeutung hat der Gesetzgeber in § 1666a in sogenannten Regelbeispielen beispielhaft konkretisiert, welche gerichtlichen Maßnahmen eingeleitet werden können. Die Aufzahlung folgt dabei der „Logik“ der Verhältnismäßigkeit vom leichten zum intensiven Eingriff.

Lies: § 1666 Abs. 3 BGB

Der teilweise oder vollständige Entzug der elterlichen Sorge (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB) ist daher das letzte Mittel.

Umgangsverbote gegen Dritte

Es können auch Umgangsverbote gegen Dritte verfügt werden.

Lies: § 1666 Abs. 3 Nr. 3, 4 BGB.

Vorrang öffentlicher Hilfen, insbesondere Jugendhilfe

Das Gesetz verbietet den Familiengerichten, das Kind von der elterlichen Familie zu trennen, wenn nicht zuvor versucht wurde, mit öffentlichen Hilfen, insbesondere mit Mitteln der Jugendhilfe, die Kindeswohlgefährdung abzuwenden.

Lies: § 1666a Abs. 1 BGB.

Vormunds- und Pflegerbestellung bei Sorgerechtsentzug

Entzieht das Gericht auf Grund einer Kindeswohlgefährdung das Sorgerecht ganz oder teilweise (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB), hat das Kind im Falle des vollständigen Entzuges keinen Sorgeberechtigten mehr, im Falle des teilweisen Entzugs in diesem Bereich keinen Sorgeberechtigten mehr. Das fehlende oder lückenhafte Sorgerecht muss daher durch eine andere Person ersetzt werden.

Entzieht das Gericht das Sorgerecht ganz oder teilweise, muss es diese Lücke im Sorgerecht gleichsam „in einem Atemzug“ mit dem Entzug der elterlichen Sorge schließen.

Entzieht das Gericht das Sorgerecht vollständig, muss es einen Vormund bestellen.

Lies: § 1773 Abs. 1 BGB.

Der Vormund übt an Stelle der Eltern das Sorgerecht aus. Er bestellt vertraglich eine Pflegeperson, die sodann in Angelegenheiten des täglichen Lebens für das Kind entscheidet.

Lies: § 1789 Abs. 1 BGB und § 1688 Abs. 1 BGB.

Im folgenden Bild ist der Sorgerechtseingriff bei vollständigem Entzug schematisch dargestellt.

Entzieht das Gericht das Sorgerecht nur teilweise, bestellt das Gericht für den „fehlenden“ Teil einen bzw. eine Ergänzungspflegerin (nicht zu verwechseln mit der Pflegeperson nach § 1688).

Lies: § 1809 Abs. 1 BGB.

Dieser übt im Bereich des entzogenen Teils der elterlichen Sorge das Sorgerecht aus. Das folgt aus einem Verweis in § 1915 Abs. 1 BGB, der unter anderem auf § 1793 Abs. 1 BGB verweist.

Lies: § 1813 Abs. 1 BGB und § 1789 Abs. 1 BGB

Der Pfleger nach § 1909 BGB wird auch „Ergänzungspfleger“ genannt (siehe die Überschrift zu § 1909 BGB). Diese Wortwahl trifft die Funktion des Ergänzungspflegers gut, denn dieser tritt mit seinem Teil-Sorgerecht neben die Eltern. Das Sorgerecht ist in diesem Fall also aufgeteilt. Einen Teil des Sorgerechts hat der Ergänzungspfleger, der Rest bleibt bei den Eltern. In der Praxis wird oft allein das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und einem Pfleger übertragen. Die Eltern behalten dann den Rest der elterlichen Sorge.

Im folgenden Bild ist der Sorgerechtseingriff bei teilweisem Entzug am Beispiel eines Entzugs des Aufenthaltsbestimmungsrechts schematisch dargestellt.

Beteiligung des Jugendamtes

Das Familiengericht hat in allen die Person des Kindes betreffenden Angelegenheiten, das Jugendamt anzuhören. Daher ist das Jugendamt auch in allen Verfahren nach § 1666 BGB anzuhören.

Lies: § 162 Abs. 1 S. 1 FamFG

Podcast: Sorgerechtsentzug und Sorgerechtsbeschränkung bei Kindswohlgefährdung