Florian Gerlach

Seminare zum „Recht der Sozialen Arbeit“

Evangelische Hochschule Bochum

Verwaltungsverfahren und Rechtsschutz

Einführung

Geht es darum, dass eine Person eine Leistung oder eine bestimmte ihn begünstigende Entscheidung vom Staat will oder geht es darum, dass eine Behörde den Bürger mit einer bestimmten Entscheidung von sich aus belastet? Der erste Fall wird von den Juristen „Leistungsfall“ genannt. Der zweite Fall wird „Abwehrfall“ genannt, weil es um eine Abwehr einer den Betroffenen belastenden Entscheidung geht.

Beispiele:

  • Frau Rochlitz ist Studentin und stellt einen Antrag auf BAföG. Das Bafögamt lehnt ab, weil es meint, die Eltern verdienten zu viel. Lösung: Leistungsfall, weil Frau Rochlitz eine staatliche Leistung begehrt.
  • Frau Rochlitz will bauen. Sie stellt einen Bauantrag. Diesem wird stattgegeben. Lösung: Leistungsfall, weil Frau Rochlitz die Leistung „Baugenehmigung“ vom Bauamt begehrt. Mit Leistungen sind also nicht nur Geldleistungen gemeint, sondern auch andere rechtliche Begünstigungen oder Vorteile.
  • Frau Rochlitz hat ein Eigentumswohnung. Die Straße vor dem Haus wurde neu ausgebaut. Nun verlangt die Kommune per Bescheid einen Straßenausbaubeitrag in Höhe von 1.437,- € von ihr. Lösung: Abwehrfall, weil es um eine Belastung mit einer Geldforderung geht.
  • Frau Rochlitz hat aus Sicht des BAföG-Amtes zu viel BAföG erhalten, weil sie angeblich falsche Angaben über ihr Einkommen gemacht hat. Nun will das BAföG-Amt Geld zurück. Lösung: Abwehrfall, weil es um eine Belastung mit einer Geldforderung geht.

Sowohl im Leistungsfall als auch im Abwehrfall kann sich die betroffene Person nur dann gegen eine für sie negative Entscheidung wehren, wenn ihr ein Anspruch zur Seite steht. Man nennt diesen Anspruch im öffentlichen Recht auch „subjektives Recht„.

Im Leistungsfall muss sich die betroffene Person auf einen Leistungsanspruch berufen können. Es muss also irgendeine Vorschrift im materiellen Recht geben, die der betroffenen Person das jeweilige Recht zuspricht. Man erkennt diese Vorschriften oft an Formulierungen wie „… ist zu erteilen …“ oder „… hat Anspruch auf …“ (z.B. das Recht auf eine Baugenehmigung – Bsp.: § 70 Abs. 1 S. 1 NBauO) oder § 27 Abs. 1 SGB VIII.

Im Abwehrfall muss sich die betroffene Person auf einen Abwehranspruch gegenüber der Entscheidung der Behörde berufen können. Im Abwehrfall geht es um die Abwehr eines Eingriffs durch eine staatliche Behörde. Grundrechte sind Abwehransprüche gegenüber staatlichen Eingriffen. Der Abwehranspruch gegenüber einer staatlichen Behörde ergibt sich deshalb in der Regel aus Grundrechten, denn die Grundrechte räumen dem Bürger grundsätzlich Handlungsfreiheit ein. Der Staat darf nur eingreifen, wenn er sich seinerseits auf ein Recht zum Eingriff in das Grundrecht berufen kann. Es muss also ein Gesetz geben, welches dem Staat den Eingriff erlaubt.

Beispiel: Das Bauordnungsamt verlangt von Frau Rochtlitz den Abriss eines ohne Baugehmigung im Garten ihres Bochumer Grundstückes errichteten Gartenhauses. Lösung: Abwehrfall. Frau Rochlitz wird durch die Abrissverfügung in ihrem Eigentum verletzt (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG). Ein staatlicher Eingriff bedarf eines Gesetzes.

Im Leistungsfall beginnt das Verfahren mit einem Antrag des Bürgers auf die begehrte Leistung. Wird der Antrag durch Bescheid abgelehnt, kann sich die betroffene Person durch Rechtsmittel (Widerspruch, Klage, etc.) dagegen wehren. Im Abwehrfall beginnt das Verfahren mit einem belastenden Verwaltungsakt mit dem die staatliche Behörde den Bürger beschwert. Hiergegen kann sich die betroffene Person sodann ebenfalls durch Rechtsmittel wehren.

Die Rechtsdurchsetzung im öffentlichen Recht nimmt ihren Anfang stets in einem Verfahren bei der Behörde, in einem Verwaltungsverfahren. Das Verwaltungsverfahren beginnt, sobald die Behörde irgendetwas unternimmt, um einen Verwaltungsakt (= Bescheid) zu erlassen.

Lesen Sie: § 9 VwVfG und § 8 SGB X

Verfahrensordnungen im öffentlichen Recht

Die Regeln, an die sich die Behörde und auch der Bürger im Rahmen des Verwaltungsverfahrens halten muss, sind im Verfahrensrecht geregelt. Dafür gibt es eigene Gesetze. Eben Verfahrensgesetze. Für das Sozialrecht heißt dieses Gesetz zum Beispiel Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz.

Geht es also darum, zu klären, ob eine Behörde die Regeln des Verfahrens richtig angewendet hat, findet man die Lösungen hierzu im Verfahrensrecht.

Beispiel: Frau Rochlitz glaubt, dass die Entscheidung über eine Rückforderung von BAföG falsch zustandegekommen ist. Die Behördenmitarbeiterin habe ihr in einem mündlichen Gespräch gesagt, sie müsse sicher nichts zurückzahlen. Dies sei eine Zusicherung. Hierauf beruft sie sich. Lösung: Die Frage, ob eine Behörde eine wirksame Zusicherung erteilt hat, ergibt sich aus aus § 34 Abs. 1 S. 1 SGB X. Danach hätte Frau Rochlitz unrecht. Zusicherungen müssen zu ihrer Wirksamkeit schriftlich erlassen werden. Die Zusicherung ist in diesem Fall daher unwirksamsam.

Entscheidungen von Behörden können in gerichtlichen Verfahren angefochten werden. Die Gerichte sind ihrerseits an Regeln gebunden, die ihnen auferlegen „wie“ sie zu einer Entscheidung, also einem Urteil oder einem Beschluss kommen. Diese Reglen sind in den Gerichtsordnungen geregelt. Für das Sozialrecht ist das richtige Gericht das Sozialgericht. Die Verfahrensregeln sind im Sozialgerichtsgesetz geregelt.

Für den Laien ist es oft schwierig zu durchschauen, welches Verfahrensrecht in welchem Verfahrensstadium und in welchem Rechtsgebiet Anwendung findet. Die Grundregel im öffentlichen Recht lautet:

Grundsätzlich gilt das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) und die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) für Streitigkeiten im öffentlichen Recht. Zwar kann jedes Bundesland ein eigenes VwVfG schaffen. Inhaltlich decken diese sich aber weitestgehend mit dem oben verlinkten allgemeinen VwVfG des Bundes. Es gibt allerdings Bereiche im öffentlichen Recht, für die der Gesetzgeber aufgrund ihrer Besonderheiten und aufgrund ihres Umfangs ein besonderes Verfahrensrecht und auch eigene Gerichtszweige geschaffen hat. Hierzu gehören als praktisch wichtigste Bereiche das Sozialrecht und das Steuerrecht.

Beim Sozialrecht gibt es noch die Besonderheit, dass im Jugendhilferecht – obwohl es sich beim Jugendhilferecht um Sozialrecht handelt – die Verwaltungsgerichte zuständig sind und deshalb die Verwaltungsgerichtsordnung gilt.

VerwaltungsrechtSozialrechtSteuerrecht
VerfahrensordnungVerwaltungsverfahrensgesetzSozialgesetzbuch XAbgabenordnung
GerichtsordnungVerwaltungsgerichtsordnungSozialgerichtsgesetzFinanzgerichtsordnung

Hauptsacheverfahren

Will ein Leistungsberechtigter sein Rechtsanspruch durchsetzen, beginnt das Verfahren regelmäßig mit einem Antrag auf die Leistung. Sodann erfolgt eine Entscheidung der Behörde. Dies Enscheidung heißt Bescheid oder Verwaltungsakt. Bescheid und Verwaltungsakt meinen der Sache nach das Gleiche. Gegen den Verwaltungsakt kann der Betroffene ein Rechtsmittel einlegen. In der Regel ist dies zunächst ein Widerspruch. Es gibt aber auch Bundesländer, in denen sogleich bei Gericht gegen den Bescheid geklagt werden muss. Welches Rechtsmittel eingelegt werden muss (Widerspruch oder Klage) ergibt sich aus der Rechtsbehelfsbelehrung unter dem Bescheid.

Die Entscheidung über den Widerspruch durch die Behörde heißt Widerspruchsbescheid. Gegen den Widerspruchsbescheid kann wiederum ein Rechtsmittel eingelegt werden und zwar eine Klage. Die Klage wird bei Gericht erhoben. Das Gericht entscheidet über die Klage durch Urteil. Gegen ein solches Urteil kann nochmals ein Rechtsmittel eingelegt werden und zwar eine Berufung und unter gewissen Voraussetzungen eine Revision.

Belastet der Staat den Bürger mit einer Entscheidung (Abwehrfall) beginnt das Verfahren mit der Entscheidung der Behörde, die vom Bürger etwas verlangt (z.b. einen bestimmten Steuerbetrag, den Abriss eines Hauses, die Rückzahlung von BAföG, etc.). Das Hauptsacheverfahren läuft sodann identisch ab, wie im Leistungsfall. Also: Widerspruch, Widerspruchsbescheid, Klage, Urteil, etc.

Verwaltungsververfahren

Das Verwaltungsverfahren wird durch einen Antrag oder von Amts wegen eingeleitet. Im Sozialverwaltungsrecht geht es in der Regel um Sozialleistungen, die einen Antrag voraussetzen.

Antrag

Mit dem Antrag muss der Bürger formulieren was er will – und zwar möglichst präzise.

Beispiel: “Hiermit beantrage ich die Bewilligung eines Hörgeräts des Typs “Juna 9, Hersteller: Bernafon AG“.

Der Antrag sollte immer begründet werden. Soweit es zum Nachweis des Bedarfs nach einer bestimmten Leistung irgendwelcher Gutachten oder ärztlicher Stellungnahmen bedarf (wie z.b. beim Hörgerät) und solche Gutachten vorliegen, sollten diese Gutachten dem Antrag auch beigefügt werden (Kopien reichen).
Für den Laien ist es oft schwer herauszufinden, welche Behörde für die Leistungen zuständig ist. Grundsätzlich sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Sozialleistungsträger zu stellen.

Lesen Sie: § 16 Abs. 1 S. 1 SGB I

Wenn der Antrag bei einem unzuständigen Sozialleistungsträger gestellt wurde, ist dieser unzuständige Sozialleistungsträger jedoch verpflichtet, den Antrag unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten.

Lesen Sie: § 16 Abs. 2 S. 1 SGB I

Wenn Unsicherheiten bestehen, ob der Sozialleistungsträger, bei dem man den Antrag stellt, wirklich zuständig ist, ist es sinnvoll, bereits im Antrag auf diese Vorschrift hinzuweisen.

Beispiel: „Falls Sie aus Ihrer Sicht für die Gewährung der Leistung nicht zuständig sind, bitten wir um Weiterleitung an den zuständigen Träger (§ 16 SGB I).“

Einen ersten Überblick über die jeweils zuständigen Behörden im Sozialleistungsrecht findet man im Sozialgesetzbuch I (SGB 1) und zwar in den Paragraphen 18 bis 29 SGB I.

Lesen Sie: §§ 18 – 29 SGB I Eine weitere Auflistung von Sozialleistungen, die auch zum Sozialgesetzbuch gehören in, findet man in § 68 SGB I

Oft findet man den richtigen Sozialleistungsträger schnell über eine Internetrecherche. In Kürze werden auf Grundlage des sogenannten Onlinezugangsgesetzes vereinfachte elektronische Zugänge zur Verwaltung geschaffen. Diese werden auch das Auffinden der zuständigen Behörde erleichtern.

Anträge auf Sozialleistungen sollten grundsätzlich schriftlich gestellt werden. Die antragstellende Person sollte sich entweder eine Eingangsbestätigung ausstellen lassen oder aber den Antrag per Einschreiben an die Behörde senden. Ein kostengünstiges „Einwurfeinschreiben“ reicht zum Nachweis.

Meistbegünstigungsprinzip

Das Meistbegünstigungsprinzip ist ein allgemeiner Grundsatz des Sozialrechts. Es bedeutet, dass bei der Auslegung von Anträgen der erkennbare wirkliche Wille des Antragstellers maßgebend ist. Es kommt also nicht auf das Gesagte, sondern das erkennbar Gemeinte an. Die Behörde muss bei der Antragsprüfung davon ausgehen, dass der Antragsteller alle nach der Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt. Dies gilt unabhängig davon, welchen Antragsvordruck er hierfür benutzt oder welche Formulierungen er selbst dafür benutzt.

Das Meistgegünstigungsprinzip wird abgeleitet aus § 16 Abs. 3 SGB I, wonach die Leistungsträger verpflichtet sind, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden.

Das Meistbegünstigungsprinzip ist in der sozialgerichtlichen Rechtssprechung anerkannt und unbestritten.

Lesen Sie: BSG, Urteil vom 06.05.2010 Aktenzeichen: B 14 AS 3/09 R, Rn. 14

Ein Sozialleistungsträger kann und darf daher Anträge nicht mit dem Argument ablehenen, dass ein konkreter Antrag nicht gestellt oder ein bestimmtes Formular nicht ausgefüllt worden sei, wenn sich das Gewollte aus dem Sachvortrag des Antragstellers ergibt.

Beispiel: Ein beim Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gestellter Antrag auf Versorgung mit Hörgeräten ist immer auch auf sonstige Leistungen der Teilhabe im Sinne der §§ 1, 4, und 5 SGB IX gerichtet.

Lesen Sie: BSG, Urteil vom 30.10.2014, Aktenzeichen B 5 R 8/14 R, Rn. 32

Handlungsfähigkeit

Kinder und Jugendliche müssen sich im Verwatltungsverfahren grundsätzlich von ihren Eltern vertreten lassen (vgl. § 1629 BGB)

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz enthält § 36 Abs. 1 SGB I, wonach ein junger Mensch, der das 15. Lebensjahr vollendet hat, Anträge auf Sozialleistungen stellen, verfolgen und entgegennehmen kann. Diese sozialrechtliche Handlungsfähigkeit kann von den Eltern jedoch durch schriftliche Erklärung wieder beschränkt werden (§ 36 Abs. 2 SGB I).

Bevollmächtige und Beistände

Beteiligte können sich im Verwaltungsverfahren durch Bevollmächtigte und Beistände vertreten lassen.

Lesen Sie: § 13 SGB X

Zu beachten ist, dass nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz die Erbringung von außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen im Verwaltungsverfahren grundsätzlich ausgewählten Berufsgruppen, insbesondere Anwältinnen und Anwälten vorbehalten ist.

Wer als Bevollmächtigter oder Beistand Hilfesuchende vertritt oder begleitet, muss die Vorgaben des Rechtsdienstleistungsgesetzes beachten.

Nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 RDG ist Behörden die Erbringung von Rechtsdienstleistungen im Rahmen ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs zwar ausdrücklich erlaubt. Bezogen auf die Tätigkeit der Verfahrenslotsen ist jedoch davon auszugehen, dass die rechtliche Vertretung von Hilfesuchenden nicht zum Aufgabenkreis der Verfahrenslotsen gehört.

Untersuchungsgrundsatz

Ein zentrales Prinzip des Sozialverwaltungsverfahrens ist der Untersuchungsgrundsatz. Er wird auch Amtsermittlungsgrundsatz genannt. Das bedeutet, dass die Behörde von sich aus alle für den Einzelfall bedeutsamen Tatsachen ermitteln muss. Dies gilt insbesondere auch für die Beteiligten günstigen Umstände.

Lesen Sie: § 20 SGB X

Der Amtsermittlungsgrundsatz bedeutet für die Hilfesuchenden eine wesentliche Erleichterung, weil die Rechtsverfolgung – anders als zum Beispiel im Zivilprozess – nicht davon abhängig ist, dass alle für den Fall relevanten Tatsachen von Anfang an vorgetragen und bewiesen werden.

Die Behörde bestimmt im Rahmen der Amtsermittlung Art und Umfang der Ermittlungen. Sie bedient sich der erforderlichen Beweismittel.

Lesen Sie: § 21 SGB X

Mitwirkungspflichten

Im Rahmen der Amtsermittlung ist die Behörde in der Regel auf eine umfassende Mitwirkung der Leistungsberechtigten angewiesen. Diese Mitwirkung kann insbesondere im Bereich des Teilhaberechts auch die Mitwirkung an Untersuchungen, Heilbehandlungen und Begutachtungen umfassen. Grundsätzlich ist jeder Leistungsberechtigte zu umfassender Mitwirkung verpflichtet.

Lesen Sie: §§ 60 – 67 SGB I

Akteneinsicht

Die Behörde muss allen Beteiligten in Verwaltungsverfahren Akteneinsicht gewähren, wenn die Kenntnis der Akten für die Rechtsverfolgung erforderlich ist. Davon ist in der Regel auszugehen. Das Akteneinsichtsrecht darf nur im Ausnahmefall verweigert werden.

Lesen Sie: § 25 Abs. 1 SGB X

Zu diesen Ausnahmefällen gehört die Verweigerung von Akteneinsicht in Fällen, in denen berechtigte Interessen anderer Personen betroffen sind. So können zum Beispiel Akten oder Teile von Akten zurückgehalten werden, wenn Personen geschützt werden sollen, die eine Kindeswohlgefährdung offenbart haben.

Lesen Sie: § 25 Abs. 3 SGB X

Bescheid / Verwaltungsakt

Die Feststellungen, welche eine Behörde in einem Verwaltungsakt verfügt hat, gelten gegenüber dem Bürger. Sie gelten grundsätzlich auch dann, wenn sie falsch und rechtswidrig sind. Die Feststellungen, welche eine Behörde in einem Verwaltungsakt trifft, haben also einen ähnlichen Charakter, wie Urteile von Gerichten. Sie stellen gegenüber dem Bürger hoheitlich verbindlich das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechten im Einzelfall fest. Deshalb lautet die Definition des Verwaltungsaktes auch: Verwaltungsakte sind hoheitliche Regelungen eines Einzelfalles mit Außenwirkung.

Lesen Sie: § 35 VwVfG und § 31 SGB X sowie § 43 Abs. 2 VwVfG und § 39 Abs. 2 SGB X

Beispiel: Wurde die (rechtswidrige) Entscheidung getroffen, dass Frau Rochlitz ihr Gartenhaus abreißen muss, so gilt diese Entscheidung und kann von der Behörde im Wege der Verwaltungsvollstreckung durchgesetzt werden. Im Zweifel auch mit Gewalt. Will Frau Rochlitz dies nicht akzeptieren, so muss sie gegen die Entscheidung rechtzeitig Widerspruch und ggf. weitere Rechtsmittel einlegen. Der Widerspruch und auch die weiteren Rechtsmittel führen grundsätzlich dazu, dass die getroffene Entscheidung so lange nicht wirksam ist und auch so lange nicht vollstreckt werden kann bis über das Rechtsmittel entschieden wurde.

Lesen Sie: § 80 Abs. 1 VwGO und § 86a Abs. 1 SGG

Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen, die im Detail hier nicht erklärt werden können.

Lesen Sie: § 80 Abs. 2 VwGO und § 86a Abs. 2 SGG

Widerspruch

Wird gegen einen Verwaltungsakt kein Widerspruch eingelegt, so wird dieser rechtskräftig. Dies hat zur Folge, dass grundsätzlich gegen den Bescheid nichts weiter unternommen werden kann. Von diesem Prinzip gibt es vor allem in Sozialrecht Ausnahmen, die später erläutert werden (Überprüfungsantrag).

Es ist deshalb ausgesprochen wichtig, darauf zu achten, dass gegen Behördenentscheidungen, die nicht akzeptiert werden sollen, rechtzeitig Widerspruch eingelegt wird.

Der Widerspruch kann ohne Begründung eingelegt werden. Es reicht aus, den Bescheid zu bezeichnen, gegen den Widerspruch eingelegt wird. Es muss die Behörde, das Aktenzeichen und das Datum des Bescheides genannt werden.

Beispiel: „Gegen den Bescheid des Bauamtes der Stadt Osnabrück, Aktenzeichen 23 OS 471 lege ich Widerspruch ein.“

Der Widerspruch muss zwar nicht, er sollte aber begründet werden. Bei einem Widerspruch, der nicht begründet wird, fordert die Behörde in aller Regel dazu auf, die Begründung innerhalb einer bestimmten Frist nachzuholen. Wird der Widerspruch nicht begründet, erfolgt eine Entscheidung nach Aktenlage.

Oftmals legen Betroffene keinen Widerspruch ein, weil sie unter dem Druck der Frist nicht wissen, wie sie den Widerspruch begründen sollen. In solchen Fällen sollte auf jeden Fall ein Widerspruch zunächst ohne Begründung eingelegt werden. Es ist immer besser, den Widerspruch zunächst überhaupt einzulegen, damit die Frist nicht abläuft und damit der Bescheid nicht rechtskräftig wird. Entscheidet sich die Person später, das Widerspruchsverfahren nicht durchführen zu wollen, kann der Widerspruch jederzeit zurückgenommen werden. Soll das Widerspruchsverfahren dagegen durchgeführt werden, kann die Begründung nachgeholt werden.

Fristen

Für die Berechnung von Fristen gelten die Regelungen des BGB.

Lesen Sie: § 26 Abs. 1 SGB X sowie §§ 186 – 193 BGB

Die Frist zur Einlegung eines Widerspruchs und auch einer Klage beträgt einen Monat (nicht vier Wochen!). Die Frist beginnt am Tage des Zugangs des Bescheides zu laufen und endet am selben Kalendertag des darauffolgenden Monats.

Beispiel: Zugang des Verwaltungsaktes am 23. Februar eines Jahres. Ablauf der Frist am 23. März desselben Jahres.

Handelt es sich bei dem Tag des Fristablaufes um einen Samstag, einen Sonntag oder einen Feiertag, läuft an diesem Tag keine Frist ab. Die Frist läuft dann am nächsten Werktag ab.

Beispiel: Zugang des Schreibens am 23. Februar eines Jahres. Ist der 23. März desselben Jahres ein Samstag, läuft die Frist am darauffolgenden Montag, dem 25. März ab.

Weil die Versäumung von Fristen sehr negative Folgen haben kann, sollte auf behördlichen Schreiben das Datum des Zugangs notiert und im Kalender das Datum des Fristablaufs notiert werden. Am besten auch eine „Vorfrist“ von einer Woche, um genügend Zeit für die Umsetzung des Widerspruchsschreibens zu haben.

Soweit ein Bescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, oder die Rechtsbehelfsbelehrung falsch ist, beträgt die Widerspruchsfrist ein Jahr.

Lesen Sie: § 58 VwGO sowie § 66 SGG

Die Rechtsbehelfsbelehrung enthält auch die Angaben zur Behörde, bei der der Widerspruch einzulegen ist. In der Regel ist dies die Behörde, die den Bescheid auch erlassen hat.

Form

Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift zu erheben. Die Schriftform wird nicht durch E-Mail gewahrt. Wohl aber durch ein Fax.

Lesen Sie: § 70 Abs. 1 VwGO und § 84 Abs. 1 SGG

Abschaffung des Widerspruchsverfahrens

In einigen Bundesländern ist das Vorverfahren in bestimmten Bereichen des Verwaltungsrechts (nicht des Sozialrechts!) durch Landesgesetz abgeschafft. Ist das Vorverfahren abgeschafft, so kann und muss gegen einen Bescheid sofort, also ohne vorheriges Widerspruchsverfahren geklagt werden. Betroffen sind folgende Bundesländer.

Wenn der Bescheid mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist, ergibt sich dieses in der Regel aus der Rechtsbehelfsbelehrung, in der dann formuliert wird, dass gegen den Bescheid vor dem genannten Gericht (sofort) „Klage erhoben“ werden kann. Wenn das Widerspruchsverfahren nicht abgeschafft ist, ist in der Rechtsbehelfsbelehrung formuliert, dass gegen den Bescheid bei der genannten Behörde „Widerspruch“ eingelegt werden kann.

Widerspruchsbescheid

Die Behörde prüft den Bescheid im Widerspruchsverfahren noch einmal in vollem Umfang. Sodann ergeht ein Widerspruchsbescheid.

Klage

Der Widerspruchsbescheid kann erneut und zwar durch eine Klage beim Gericht angefochten werden. Geht es um eine Streitigkeit im Bereich des Sozialrechts, ist grundsätzlich das Sozialgericht, welches für den Wohnsitz der klagenden Partei verantwortlich ist, zuständig. Welches Gericht das ist, kann man durch Eingabe der Postleitzahl der klagenden Partei beim Justizportal des Bundes und der Länder ermitteln.

Im Sozialrecht gibt es eine Ausnahme von der Zuständigkeit der Sozialgerichte. Diese betrifft das Kinder- und Jugendhilferecht. Hier sind die Verwaltungsgerichte zuständig. Das richtige Verwaltungsgericht ist dasjenige Verwaltungsgericht, welches für den Sitz der beklagten Behörde zuständig ist. In diesem Fall muss man also im Zuständigkeitsfinder die Postleitzahl der beklagten Behörde eingeben.

Im Hinblick auf die Fristen gelten die gleichen Prinzipien, wie beim Bescheid.

Also: Anfechtung innerhalb eines Monats durch Klage.

Eine Klage kann grundsätzlich nur durchgeführt werden, wenn zuvor ein Widerspruchsverfahren durchgeführt wurde.

Lesen Sie: § 68 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 VwGO gilt für alle Streitigkeit im Kinder- und Jugendhilferecht Lesen Sie: § 78 Abs. 1. S. 1 und Abs. 3 SGGG (ist einschlägig für alle anderen sozialrechtlichen Streitigkiten)

Deshalb nennt man das Widerspruchsverfahren auch Vorverfahren.

Von diesen Prinzip gibt es Ausnahmen:

Ist über einen

  • Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes oder
  • über einen Widerspruch

ohne zureichenden Grund in angemessener Frist nicht rechtzeitig einschieden worden kann Untätigkeitsklage erhoben werden.

Hinsichtlich der Fristen gibt es unterschiede zwischen Verfahren, die vor den Verwaltungsgerichten geführt werden müssen und solchen, die vor den Sozialgerichten geführt werden müssen. So sind Streitigkeiten im Kinder- und Jugendhilferecht den Verwaltungsgerichten, die meisten anderen sozialrechtlichen Streitigkeiten dagegen den Sozialgerichten zugewiesen.

Für die Untätigkeitkeitsklage bei den Verwaltungsgerichten gilt eine Frist von 3 Monaten.

Lesen Sie: § 75 VwGO

Für die Untätigkeitkeitsklage bei den Sozialgerichten gilt eine Frist von 6 Monaten.

Lesen Sie: § 88 SGG

Eilverfahren

Die Verfahren in der Hauptsache dauern oft sehr lange. Wird ein Fall nicht im Widerspruchsverfahren abgeschlossen und folgt ein gerichtliches Verfahren, so kann die Verfahrensdauer schnell ein Jahr und sogar mehrere Jahre dauern. Geht es zum Beispiel um Sozialleistungen, kommt eine Entscheidung oft zu spät. Denn sowohl materielle Hilfen (zum Beispiel Arbeitslosengeld) oder auch Dienstleistungen (zum Beispiel Pflegeleistungen) müssen in der Regel sofort gewährt werden.

Leistungsfall

Geht es um einen Fall, in dem ein Bürger eine Leistung vom Staat begehrt und wurde ein Antrag abgelehnt oder nicht rechtzeitig entschieden, besteht die Möglichkeit, ein Eilverfahren einzuleiten. Dafür ist ein „Eilantrag“ an das zuständige Gericht erforderlich. Dieser Antrag heißt in der Rechtssprache „Antrag auf Erlass einer einstweiligen“ Anordnung. Gemeint ist, dass das Gericht im Hinblick auf die begehrte Leistung „einstweilen“, also vorläufig etwas anordnet. Es wird eine vorläufige Entscheidung durch einen Beschluss getroffen. Vorläufig und so lange, bis in der Hauptsache endgültig entschieden wurde.

Diese Eilverfahren spielen im Sozialleistungsrecht eine sehr wichtige Rolle, denn sie führen häufig dazu, dass schon im Eilverfahren eine endgültige Lösung erzielt wird. Oft werden im Eilverfahren zwischen der Behörde einerseits und dem Bürger andererseits Lösungen erzielt, die dauerhaft tragfähig sind.

Es gibt ganze Rechtsgebiete, in denen ein sehr großer Teil der gerichtlichen Auseinandersetzungen im Eilverfahren entschieden wird. Der Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende gehört zum Beispiel dazu.

Im Eilverfahren müssen gegenüber dem Gericht – wie im Hauptsacheverfahren auch – die Tatsachen dargelegt werden, die den Anspruch begründen.

Beispiel: Frau Rochlitz ist 19 Jahre alt und will Hilfe für junge Volljährige in einer Jugendhilfeeinrichtung erhalten. Sie muss die Tatsachen vortragen, die deutlich machen, warum sie zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung nicht in der Lage ist. Zum Beispiel, weil sie infolge einer Inhaftierung noch nicht über die notwendigen Ressourcen für eine eigenverantwortliche Lebensführung verfügt. Will sie ihre Ansprüche im Eilverfahren durchsetzen, muss sie zusätzlich darlegen, dass sie die Hilfe sofort benötigt. Das liegt bei dieser Bedarfslage auf der Hand. Denn es ist klar, dass Frau Rochlitz dann, wenn sie nicht eigenständig leben kann, sofort Hilfe braucht.

Für einen Erfolg im Eilverfahren ist es sehr wichtig, die Eilbedürftigkeit gründlich zu begründen.

Abwehrfall

Hat die Behörde einen Verwaltungsakt erlassen, der die betroffene Person belastet (Abwehrfall), so ist es in der Regel nicht erforderlich, eine Eilentscheidung durch das Gericht zu erwirken. Warum? Es reicht, gegen den Bescheid Widerspruch einzulegen oder gegen einen danach ergehenden Widerspruchsbescheid Klage zu erheben. Denn: Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das heißt: Der durch Widerspruch oder Klage angefochtene Bescheid entfalted einstweilen keine Wirkung und kann nicht vollstreckt werden. Einstweilen heißt: bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache.

Beispiel: Das BAföG-Amt erlässt einen Bescheid und verlangt angeblich zuviel geleistes BAföG von Frau Rochlitz zurück. Sie legt gegen den Bescheid fristgerecht Widerspruch ein. Sie muss einstweilen nicht zahlen und zwar so lange nicht, bis rechtskräftig in der Hauptsache entschieden ist.

Es gibt Fälle, in denen auch im Abwehrfall ein Eilverfahren durchgeführt werden muss. Es gibt nämlich Verwaltungsakte, bei denen das Prinzip: Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung nicht gilt. In bestimmten Rechtsbereichen und bei bestimmten Entscheidungen hat der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage ausgeschlossen. Dies ist zum Beispiel bei der Anforderunge von öffentlichen Abgaben und Kosten.

Lesen Sie: § 80 Abs. 2 VwGO

Beispiel: Frau Rochlitz erhält Hilfe für junge Volljährige. Sie wird nach § 91 Abs. 1 Nr. 8 SGB VIII durch Verwaltungsakt zu den Kosten herangezogen. Ein Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung. Auf Antrag kann das Gericht die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen.

Auch hat die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, die sofortige Vollziehung von Bescheiden anzuordnen.

Lesen Sie: § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO

Auch in diesem Fall haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung. Auch in diesem Fall kann ein Eilverfahren eingeleitet werden nach § 80 Abs. 5 VwGO, mit dem Ziel, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage widerherzustellen.

Verfahren auf Anordnung oder Widerherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO bzw. § 86b Abs. 1 SGG sind rechtlich kompliziert. Hierbei können leicht Fehler gemacht werden. Diese Verfahren sollten deshalb in die Hände von Anwältinnen und Anwälten gegeben werden, die im Verwaltungsrecht oder im Sozialrecht über besondere Erfahrung verfügen.

Überprüfungsantrag

Ein sehr wichtiges und oft übersehenes Instrument ist der sozialrechtliche Überprüfungsantrag. Der Überprüfungsantrag kann gestellt werden, wenn Sozialleistungen zu Unrecht abgelehnt wurden. Die Besonderheit ist, dass dieser Antrag trotz Ablaufes einer Rechtsbehelfsfrist gestellt werden kann. Wird ein solcher Überprüfungsantrag gestellt, muss die Behörde den Fall nochmals prüfen und den Verwaltungsakt zurücknehmen, soweit er rechtswidrig war.

Lesen Sie: § 44 Abs. 1 SGB X

Beispiel: Frau Rochtlitz legt gegen einen Bescheid des BAföG-Amtes, mit dem ihr Leistungen verweigert werden, nicht rechtzeitig Widerspruch ein. Der Bescheid wird rechtskräftig. Sie kann einen Antrag nach § 44 Abs. 1 SGB X stellen. Die Behörde muss den Fall nochmals prüfen und ihr die Leistung gewähren, wenn der Bescheid rechtswidrig war.

Rechtsbehelfe gegen gerichtliche Entscheidungen

Urteile können durch Berufung und Revision angefochten werden.

Beschlüsse im Eilverfahren durch Beschwerde.

Diese Rechtsmittel sollten nur mit anwaltlicher Unterstützung eingelegt werden.

Kosten des Verfahrens

Für Verwaltungsentscheidungen und gerichtliche Entscheidungen entstehen Verwaltungsgebühren (Bsp.: Nieders. Verwaltungskostengesetz) und Gerichtsgebühren. Anwälte erhalten Rechtsanwaltsgebühren.

Im Sozialrecht entstehen für das Verfahren vor Behörden und Gerichten keine Kosten. Wohl aber können Anwaltsgebühren anfallen. Auch möglicherweise erforderliche Kosten für Gutachten werden von der Behörde bzw. dem Gericht übernommen.

Wer kein ausreichendes Einkommen hat, kann Prozesskostenhilfe erhalten, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die Rechtsverfolgung darf also nicht aussichtslos sein. Prozesskostenhilfe muss bei Gericht beantragt werden. Dazu muss eine „Erklärung über die persönlichen Verhältnisse“ eingereicht werden. Außerdem müssen Ausführungen zu den Erfolgsaussichten eines Verfahrens gemacht werden. Diese Ausführungen sind letztlich nichts anderes, als die Begründung der Klage selbst.

Wird Prozesskostenhilfe bewilligt, werden die eigenen Anwaltskosten, die Verfahrenskosten und die Gerichtskosten übernommen. Auch etwaige Kosten für Gutachter und Sachverständige werden übernommen.