Florian Gerlach

Seminare zum „Recht der Sozialen Arbeit“

Evangelische Hochschule Bochum

Aufbau und Strukturprinzipien des Sozialrechts

Sozialversicherung

Die fünf Sparten („Säulen“) der Sozialversicherung sind

  • die Arbeitslosenversicherung – SGB III,
  • die Krankenversicherung – SGB V,
  • die Rentenversicherung – SGB VI,
  • die Unfallversicherung – SGB VII sowie
  • die Pflegeversicherung – SGB XI.

Dieses System der Sozialversicherung weist jedoch Lücken auf. Zum einen, weil nicht alle Personen in allen Bereichen der Sozialversicherung sozialversichert sind.

Beispiel: So stellt z.B. das SGB VI (Rentenversicherung) Leistungen zur Rehabilitation behinderter und kranker Menschen zur Verfügung. Um diese Leistungen in Anspruch nehmen zu können, muss der betroffene Hilfesuchende nachweisen, dass er über eine bestimmte Zeit Beiträge eingezahlt hat (sog. Vorversicherungszeiten); darüber hinaus muss er darlegen können, dass durch die Hilfeleistung seine Arbeitsfähigkeit voraussichtlich wieder hergestellt werden wird (sog. positive Rehabilitationsprognose). Erfüllt der Hilfesuchende eine dieser Voraussetzungen nicht, hat er keinen Anspruch aus der Sozialversicherung (hier: Rentenversicherung – SGB VI). Leistungsansprüche ergeben sich dann im Regelfall aus den Regelungen des Fürsorgerechts.

Zum anderen, weil es auch bei bestehender Sozialversicherung Lücken in den einzelnen Sicherungssystemen gibt. Auch hier gilt wiederum: diese Lücken zu schließen ist zunächst Aufgabe der Familie. Kann auch diese wie in der Regel – den Hilfebedarf nicht oder nur zum Teil auffangen, ist es Aufgabe der Sozialfürsorge oder der Eingliederungshilfe, die verbleibenden Lücken im System der sozialen Sicherung zu schließen.

Sozialfürsorge

Die Gesetze der Sozialfürsorge sind

  • die Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II,
  • die Kinder- und Jugendhilfe – SGB VIII sowie
  • die Sozialhilfe – SGB XII.

Das deutsche Sozialrecht unterscheidet damit scharf zwischen Regelungen des Sozialversicherungsrechtes und solchen des Sozialfürsorgerechtes. Die praktische Konsequenz dieser Systematik liegt zunächst in der Refinanzierung der jeweiligen Systeme: während die Sozialversicherung (primär) durch Beiträge ihrer Mitglieder und damit vor allem durch die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer selbst refinanziert wird, bringt der Staat die Mittel für die Erbringung der Fürsorgeleistungen unmittelbar aus dem Staatshaushalt auf. Auf Seiten des Hilfebedürftigen wirkt sich dieses System in der Weise aus, dass er Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung nur haben kann, wenn er Mitglied in der jeweiligen Sozialversicherung ist. Hilfesuchende, die nicht Mitglied einer gesetzlichen Sozialversicherung sind oder deren Hilfebedarf durch die jeweilige Sozi-alversicherung nicht gedeckt wird, können Anspruch auf Leistungen des Fürsorgerechts haben. In den jeweiligen Fürsorgegesetzen finden sich – gleichsam spiegelbildlich zu den Regelungen des Versicherungsrechtes – Leistungen der Krankenhilfe, der Arbeitslosenhilfe, der Hilfe für alte Menschen, der Hilfe zur Pflege, etc. Fallen vorrangige Sicherungssysteme aus, lebt das Fürsorgerecht auf. Das Fürsorgerecht ist damit als unterste Stufe der sozialen Sicherung ein Auffangsystem, welches erst greift, wenn vorrangige Sicherungssysteme nicht in Betracht kommen. Leistungen des Fürsorgerechts sind gegenüber anderen Sozialleistungen subsidiär. Man spricht deshalb vom Subsidiaritätsprinzip im deutschen Sozialleistungsrecht.

Geschichte

Die ältesten Rechtsquellen bestehen in Regelungen zur sog. „Armenlast“, die die Kommunen zu tragen hatten. Die Armenlast reicht zurück bis in das ausgehende Mittelalter. Sie war der Vorläufer des Fürsorgerechts, das in der Weimarer Zeit ab 1922 mit den „Reichsgrundsätzen über Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ sowie der „Fürsorgepflichtverordnung“ und dem „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ weiter normiert wurde.

Die deutsche Sozialversicherung ist ca. 130 Jahren alt. Sie nahm ihren Ausgang im Deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck (sog. Bismarcksche Sozialgesetzgebung). In den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts führte Bismarck zunächst

Die

trat erst über ein Vierteljahrhundert später, während der Weimarer Zeit, als fünfte und letzte Säule der Sozialversicherung in Kraft.

Die

trat erst Mitte der 1990er Jahre in Kraft.

Ein weiterer wesentlicher Schritt in der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik war das Inkrafttreten des

Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) war ein Fürsorgegesetz. Es regelte auf unterster Stufe der sozialen Sicherung die Absicherung elementarer Lebensrisiken, wie Erwerbslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Alter, etc. Wegen seines strengen Nachrangs und der zur damaligen Zeit herrschenden Vollbeschäftigung entfaltete es seine Wirkung als System zu Absicherung des Armutsrisikos in größerem Umfang erstmalig während der sog. „Ölkrise“ Anfang der 1970er Jahre.

Das Sozialgesetzbuch

Seit den Anfängen der Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert war das Sozialrecht in Deutschland immer unübersichtlicher geworden. Zu Beginn der 60er Jahre fand sich ein nahezu unüberschaubares und intransparentes sowie von einer Vielzahl von Überschneidungen geprägtes Sozialrecht vor. Die Regierung Brandt (SPD) entschloss sich daher Ende der 1960er Jahre (Regierungserklärung v. 1969) zur Vereinheitlichung und Vereinfachung des Sozialrechtes zur Schaffung eines einheitlichen Sozialgesetzbuches. Der Beratungsprozess einer von der Bundesregierung eingesetzten 30-köpfigen Expertengruppe vereinnahmte zunächst eine Zeitspanne von ca. 10 Jahren. Die Expertengruppe schlug die Schaffung von zunächst zehn Sozialgesetzbüchern (SGB I bis SGB X), gegliedert nach Sachgebieten (Arbeitsförderung, Sozialversicherung, Jugendhilfe, Sozialhilfe, etc.) vor. Der erste Teil des Sozialgesetzbuches, der Allgemeine Teil – SGB I, wurde im Jahre 1975 in Kraft gesetzt. Die weiteren Gesetze folgten in den kommenden 30 Jahren sukzessive. Hervozuheben ist hier das Inkrafttreten des SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das das zuvor geltende Jugendwohlfahrtsgesetz 1990 ablöste.

Erst im Jahre 2005 wurde im Rahmen der sog. „Hartz IV“-Gesetzgebung das Bundessozialhilfegesetz aufgehoben und das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) sowie das SGB XII in das SGB integriert. Der Gesetzgebungsprozess ist damit noch immer nicht abgeschlossen.

2017 trat die erste Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft, mit der Gesetzgeber das Teilhaberecht zugunsten von Menschen mit Behinderungen grundlegend reformier hat. Die zentralen Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz finden sich im SGB IX.

Am 1. Januar 2024 wird das SGB IX (Soziale Entschädigung) in Kraft treten. Das SGB IX wird die bislang in verschiedenen Gesetzen geregelten Anspruchsgrundlagen zur sozialen Entschädigung in einem Gesetz zusammenführen.

§ 68 SGB I zählt diejenigen Sozialleistungsgesetze auf, die noch nicht in das SGB eingeordnet sind. Sie gelten bis zu ihrer Einordnung in das SGB als besondere Teile des Sozialgesetzbuches.

Der Aufbau des Sozialgesetzbuches

Dreizehn Sozialgesetzbücher

Das Sozialrecht weist trotz des Bemühens um Systematisierung und Vereinheitlichung eine komplexe Regelungsstruktur auf. Es nimmt innerhalb des Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland eine Sonderstellung ein. Es ist dem öffentlichen Recht zugeordnet und bildet dort einen Unterbereich des Verwaltungsrechtes. Wegen seiner Sonderstellung im Recht verfügt es über eine eigene Gerichtsbarkeit, die Sozialgerichtsbarkeit, mit den Instanzen Sozialgericht, Landessozialgericht und Bundessozialgericht, neben den sog. ordentlichen Gerichtsbarkeiten (Zivil- und Strafgerichte) sowie den Verwaltungs- und Finanz- und Arbeitsgerichtsbarkeiten.

Das Sozialgesetzbuch in seiner heutigen Form ist in 12 nach Sachgebieten geordnete sogenannte Bücher gegliedert:

  • SGB I – Allgemeiner Teil
  • SGB II – Grundsicherung für Arbeitssuchende
  • SGB III – Arbeitsförderung
  • SGB IV – Allgemeiner Teil Sozialversicherung
  • SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung
  • SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung
  • SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung
  • SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe
  • SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
  • SGB X – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
  • SGB XI – Soziale Pflegeversicherung
  • SGB XII – Sozialhilfe

Die einzelnen Gesetze nehmen innerhalb des Sozialgesetzbuches unterschiedliche Funktionen ein: Rechtsansprüche auf Sozialleistungen zugunsten von Hilfesuchenden (also Ansprüche auf Arbeitslosengeld, Krankenhilfe, Rente, Pflegegeld, etc.) sind ausschließlich in den folgenden Gesetzen enthalten:

  • SGB II – Grundsicherung für Arbeitssuchende
  • SGB III – Arbeitsförderung
  • SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung
  • SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung
  • SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung
  • SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe
  • SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (Teil 2)
  • SGB XI – Soziale Pflegeversicherung
  • SGB XII – Sozialhilfe
  • SGB XIV – Soziale Entschädigung (ab 2024)

Die übrigen Gesetze

  • SGB I – Allgemeiner Teil
  • SGB IV – Allgemeiner Teil Sozialversicherung
  • SGB X – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz.

enthalten keine Leistungsansprüche (Ausnahme: Vorleistungsansprüche, § 43 SGB I, Zinsansprüche, § 44 SGB I). Sie übernehmen die Funktion sog. allgemeiner Teile, enthalten also vor die Klammer gezogene, allgemeine Regelungen.

SGB I und SGB X sind dabei allgemeine Teile, die für alle anderen Sozialgesetzbücher gelten. Das SGB I regelt dabei allgemeine Fragen, wie etwa die Form und die Struktur des SGB, die Verjährung von Ansprüchen, etc., das SGB X regelt alle Fragen des Verwaltungsverfahrens, wie etwa die Beteiligung von Bevollmächtigten (z.B. Rechtsanwälten), den Amtsermittlungsgrundsatz, das Recht auf Akteneinsicht, etc. Soweit sich im besonderen Teil des Sozialgesetzbuches Regelungen finden, die die gleiche Materie regeln, so gehen die Regelungen des besonderen Teiles denjenigen des allgemeinen Teiles vor.

Beispiel: Das SGB X regelt den Sozialdatenschutz umfassend in den §§ 67 – 85a SGB X. Das SGB VIII enthält (zusätzliche) Sonderregelungen für den Datenschutz in der Jugendhilfe in den §§ 61 – 68 SGB VIII (so genannter bereichsspezifischer Datenschutz). Die Regelungen des SGB VIII weichen zum Teil von denjenigen des SGB X ab. Im Interesse der Eltern und Kinder ist der Datenschutz im SGB VIII strenger als im SGB X. Weil das SGB VIII zum besonderen Teil, das SGB X dagegen zum allgemeinen Teil des SGB gehört, gehen die Regelungen des SGB VIII vor.

Im Verhältnis von SGB I und SGB X einerseits zu den übrigen Sozialleistungsgesetzen ergibt sich daher folgendes Schema:

Die untere Ebene bildet zusammen den besonderen Teil. 

Das SGB IV als allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts

In dem vorstehenden Schema fehlt das SGB IV (Sozialversicherung allgemeiner Teil) Dieses bildet seinerseits einen allgemeinen Teil innerhalb des besonderen Teils. Für den Bereich der Sozialversicherung ist das SGB IV allgemeiner Teil, enthält also allgemeine Regelungen, welche ausschließlich den Bereich der Sozialversicherung betreffen: