Florian Gerlach

Seminare zum „Recht der Sozialen Arbeit“

Evangelische Hochschule Bochum

Eingliederungshilfe

Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche

Einführung

Junge Menschen mit Behinderungen können Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII haben. Das Kinder- und Jugendhilferecht ist damit Teil des sogenannten Rehablitationsrechts, welches die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen regelt. § 35a SGB VIII ist die Anspruchgrundlage für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit einer seelischen Behinderung. Art und Form der Leistungen sind im SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geregelt geregelt.

Voraussetzungen

Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Lies: § 35a Abs.1 SGB VIII

Der Anspruch steht auch jungen Volljährigen zu, wenn gleichzeitig die Voraussetzung des § 41 Abs.1 SGB VIII vorliegen. Dies ergibt sich aus § 41 Abs.2 SGB VIII, der unter anderem auf § 35a SGB VIII verweist.

Behinderung

Die Vorschrift formuliert den sogenannten „zweigliedrigen Behinderungsbegriff“, wonach Behinderung eine Kombination aus abweichendem Gesundheitszustand und daraus („… und daher …“) resultierender Teilhabebeeinträchtigung ist. Behinderung beinhaltet also stets zwei Elemente: erstens den abweichenden Gesundheitszustand, zweitens die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Man spricht deshalb vom zweigliedrigen Behinderungsbegriff. Anders gesagt: Behinderung ist gesellschaftliche Desintegration als Folge von Krankheit (abweichender Gesundheitszustand). Der seelisch behinderte Mensch ist deshalb immer auch krank, nicht aber umgekehrt.

Der abweichende Gesundheitszustand muss mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vom typischen Zustand abweichen. Damit können nur chronifizierte Erkrankungen zur Behinderung führen.

Der Anspruch auf Hilfe setzt bereits ein, wenn eine Behinderung droht. Die Hilfe soll also auch präventiv wirken und den Eintritt von Behinderungen verhindern. Eine Behinderung droht, wenn eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

Lies: § 35a Abs.1 S.2 SGB VIII

Seelische Behinderung

§ 35a Abs.1 SGB VIII beschränkt den Leistungsanspruch auf junge Menschen, deren „seelische“ Gesundheit beeinträchtigt ist, die also seelisch behindert sind. Damit greift das SGB VIII eine Teilgruppe von Menschen mit Behinderungen aus dem Leistungssystem des SGB IX heraus. Kinder und Jugendliche, die „seelisch“ behindert sind, erhalten Leistungen aus dem System des SGB VIII während Kinder und Jugendliche, die geistig oder körperlich behindert sind, Leistungen aus dem System des SGB IX erhalten. Für junge Volljährige gilt dieses entsprechend, wenn gleizeitig die Voraussetzungen des § 41 Absatz 1 SGB VIII vorliegen.

Eingliederungshilfe nach SGB VIII und SGB IX

SGB VIIISGB IX
Menschen mit seelischer Behinderung
Menschen mit geistiger Behinderung
Menschen mit körperlicher Behinderung

Vorrang der Jugendhilfe bei seelischer Behinderung

Das SGB IX sieht Leistungen für Menschen mit Behinderungen unabhängig von der Art ihrer Behinderung vor.

Lies: § 99 Abs.1 SGB IX und § 2 Abs.1 S.1 SGB IX.

Nach dem Wortlaut des § 99 Abs.1 S.1 SGB IX könnten damit auch Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit einer seelischen Behinderung Leistungen nach § 99 SGB IX erhalten. Der Anspruch auf Eingliederungshilfe zugunsten von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen, die seelisch behindert sind, ist also scheinbar doppelt geregelt. Einmal im SGB VIII und einmal im SGB IX.

§ 10 Abs.4 SGB VIII regelt deshalb einen Vorrang der Jugendhilfe bei seelischer Behinderung, dagegen einen Vorrang der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX bei geistiger und seelischer Behinderung.

Lies: § 10 Abs.4 SGB VIII

Zuständigkeitsstreits

Praktisch relevant ist dies aus der Perspektive des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe deshalb, weil dann, wenn der junge Mensch mit einer Behinderung geistig oder köperlich behindert ist, das Jugendamt nicht zuständig ist und deshalb die Leistung nicht finanzieren muss. Vielmehr ist in diesem Fall nach Landesrecht zuständige Träger der Eingliederungsilfe zuständig. Für die Frage der Zuständigkeit kommt es daher maßgebend darauf an, ob der jeweilige junge Mensch seelisch oder eben geistig oder körperlich behindert ist.

Ist diese Frage nicht eindeutig zu entscheiden, kommt es in der Praxis häufig zu Zuständigkeitsstreits, die zu Lasten der Hilfesuchen gehen, weil sie oftmals keine Leistungen erhalten, solange der Streit nicht entschieden ist.

Dieses Problem soll mit der Regelung zur Zuständigkeitsklärung bewältigt werden.

Lies: § 14 SGB IX

Wollen Eltern und andere Personensorgeberechtigte in einem solchen Fall Kindeswohlinteressen angemessen wahrnehmen, ist es oft geboten, mit den dafür vorgesehenen Mitteln den Anspruch durchzusetzen und zwar auch unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes. Dieses Gebot trifft auch Vormundinnen und Vermünder, insbesondere auch Amtsvormundinnen und Amtsvormünder.

Die gebotenen rechtlichen Schritte sind:

  • bei allen in Betracht kommenden Behörden schriftlich Anträge auf die in Betracht kommenden Leistungen stellen
  • Kommunikation und Verhandlung mit diesen Behörden
  • nach Erlass ablehnender Bescheide: fristgebundene Rechtsbehelfe einlegen
  • bei versäumten Fristen: Stellen von Überprüfungsanträgen nach § 44 Abs.1 S.1 SGB X
  • Veranlassung verwaltungsgerichtlicher (§ 123 VwGO) bzw. sozialgerichtlicher Eilverfahren § 86b Abs.2 SGG
  • gerichtliche Zuständigkeit:

Unabhängig davon geht die Rechtsprechung davon aus, dass die Verweigerung von Leistungen zu Lasten des Hilfesuchenden rechtswidrig ist, wenn ein Anspruch gegen beide Leistungsträger besteht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999, Aktenzeichen 5 C 26/98 Urteil. (Hervorhebungen nicht im Original; Bezahlschranke, kostenloses Dokument steht leider nicht zur Verfügung):

„Da der Kläger einen Anspruch auf Hilfe nach § 41 SGB VIII hat, führte ein daneben bestehender Anspruch auf Eingliederungshilfe wegen wesentlicher geistiger Behinderung – das Berufungsgericht hat offengelassen, ob ein solcher Anspruch besteht – nach § 10 Abs.2 S.2 SGB VIII zum Vorrang der Sozialhilfe. Dieser Vorrang bewirkt aber auf der Ebene der Verpflichtungen zum Hilfebegehrenden nicht eine Freistellung des nachrangig verpflichteten Trägers, hier des Beklagten als Jugendhilfeträger, und eine alleinige Zuständigkeit des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers, hier des Sozialhilfeträgers. (Nach § 10 Abs.2 S.2 SGB VIII vorgehende) Maßnahmen der Eingliederungshilfe (maßgeblich sind nicht die tatsächlichen Hilfemaßnahmen eines privaten Trägers, hier des Kinder- und Jugendheims W., sondern die vom öffentlichen Sozialleistungsträger verantworteten Maßnahmen) sind noch nicht erbracht worden. Deshalb besteht der Anspruch des Klägers nach § 41 SGB VIII auch für den Fall, daß dem Kläger noch zusätzlich ein Hilfeanspruch wegen geistiger Behinderung nach § 39 BSHG zustehen sollte. Ein möglicher Nachrang hat demnach keine Auswirkung auf das Leistungsverhältnis zwischen dem Kläger als Hilfebegehrendem und dem Beklagten als Sozialleistungsträger, sondern erst für die Frage der Kostenerstattung zwischen dem Jugendhilfeträger und dem Sozialhilfeträger.“

Verfahren

Der „zweigliedrige Behinderungsbegriff“ verlangt die Beantwortung zweier Fragen:

  • Liegt eine Abweichung der seelischen Gesundheit vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert?
  • Ist wegen dieses abweichenden Gesundheitszustandes, also wegen dieser Erkrankung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt?

Die Beurteilung abweichender Gesundheitszustände und die Diagnostik von Krankheiten, hat der Gesetzgeber in die Hand von Ärzten und Therapeuten gelegt. Dieses allgemeine Prinzip regelt das SGB VIII nochmals explizit, indem es dem Jugendamt vorgibt, dass hinischtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit die Stellungnahme eines Arztes, einer Ärztin oder eines Therapeuten eingeholt werden muss.

Lies: § 35a Abs.1a SGB VIII

Die Stellungnahme ist auf Grundlage der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM)“ zu verfassen.

Das weitere Tatbestandsmerkmal (Teilhabebeeinträchtigung) hat das Jugendamt zu überprüfen. Enthält das ärztliche Votum auch Ausführungen zur Teilhabebeeinträchtigung soll dies vom Jugendamt im Rahmen der Entscheidung angemessen berücksichtigt werden.

Lies: § 35a Abs.1a S.4 SGB VIII

Rechtsfolge

Art und Umfang der Hilfe werden in § 35 Abs. 2 – 4 SGB VIII bestimmt.

Lies: § 35a Abs.2-4 Satz 4 SGB VIII

Kompliziert ist vor allem Absatz 3 der Vorschrift, der auf das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verweist. Die Systematik und der Aufbau der Leistungsvorschriften des SGB IX wird an anderer Stelle erklärt. Hier deshalb nur die wichtigsten Bestummungen:

Persönliches Budget

§ 35a Abs.3 SGB VIII verweist zunächst auf

Teil dieses Kapitels ist auch § 29 SGB IX – die Vorschrift über das sogenannte „persönliche Budget“. Leistungsberechtigte junge Menschen im Sinne von § 35a SGB VIII können deshalb anstelle von Dienst- oder Sachleistungen auch Geldleistungen gewährt werden, mit denen diese ihren Hilfebedarf selbst „einkaufen“ können. Als Experten in eigener Sache können sie so selbständig und selbstbestimmt über Art und Umfang der von ihnen benötigten Hilfe entscheiden.

Vgl. zum Beispiel zum persönlichen Budget bei Schulassistenz:

OVG Bremen, Beschluss vom 25.05.2020, Aktenzeichen: 2 B 66/20

Eingliederungshilfeleistungen

§ 35a Abs.3 verweist darüber hinaus auf wesentliche Reglungen aus Teil 2 des SGB IX, dem sogenannten Eingliederungshilferecht.

Danach können gewährt werden: